Beschluss vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220111.1bvr012321 |
Date | 11 Enero 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 123/21 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 123/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der (…) KG, vertreten durch den persönlich haftenden Gesellschafter, |
- Bevollmächtigte:
- (…) -
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 10. November 2020 - 27 O 380/20 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
und | Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand |
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Paulus,
Christ
und die Richterin Härtel
am 11. Januar 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschwerdeführerin wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
- Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 10. November 2020 - 27 O 380/20 - die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes verletzt.
- Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 5.000 Euro (in Worten: fünftausend Euro) und für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 20.000 Euro (in Worten: zwanzigtausend Euro) festgesetzt.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine einstweilige Verfügung, die das Landgericht Berlin in einer äußerungsrechtlichen Angelegenheit erlassen hat, ohne die Beschwerdeführerin über an die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens ergangene richterliche Hinweise in Kenntnis zu setzen, noch sonst anzuhören.
1. Gegenstand des zugrundeliegenden Verfahrens war die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen. Am 16. September 2020 berichtete die Beschwerdeführerin – ein Presseverlag – in Wort und Bild über die Feier eines Richtfestes für das im Bau befindliche Anwesen der prominenten Antragstellerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: die Antragstellerin). Auf mehreren Fotos waren neben der Antragstellerin und ihrem Lebensgefährten der Rohbau des Hauses und die Gäste bei der Feierlichkeit zu sehen. Die Berichterstattung befasste sich unter anderem kritisch mit der Art und Weise der Durchführung der Feier während der aktuellen Corona-Pandemie. Sie lautete auszugsweise:
„Hereinspaziert, hereinspaziert … und … heißen bei der Richtfest-Feier für ihr Traumhaus … alle willkommen. ‚Für uns als Paar ist dieses Haus, so wie wir hier stehen, natürlich ein ganz großer, bedeutender, wichtiger Schritt in eine gemeinsame Zukunft. Und eine hoffentlich sehr, sehr glückliche Zeit hier in diesem Haus‘, freut sich … in ihrer Rede. Mama …, Papa …, Architekten und Zimmerleute: Rund 40 Gäste sind gekommen, um zu feiern. Eng sitzen sie auf Bierzelt-Bänken nebeneinander, … schüttelt alle Hände, macht Smalltalk und verteilt Geschenke: Ohne Mundschutz und ohne Abstand! Es scheint, dass es hier niemand mit den Corona-Vorschriften so genau nimmt. Dabei hat … doch eine Vorbildfunktion! Hat sie die ausgelassene Party die Hygiene-Schutzregeln etwa vergessen lassen? ‚Wir sind sehr dankbar und froh, dass wir jetzt vor so einem wunderschönen Haus stehen dürfen. Noch mehr haben wir Freude, in dem Haus zu stehen‘, schwärmt …. Vor rund drei Jahren kaufte sie das Anwesen. Die Lage - ein Traum: direkt am Wasser mit einem atemberaubenden Blick …. Es verfügt nicht nur über mehrere Schlaf- und Kinderzimmer, sondern auch über einen Fitnessraum und ein Schwimmbad!“
2. Mit per Telefax übermitteltem anwaltlichem Schreiben vom 21. September 2020 mahnte die Antragstellerin die Beschwerdeführerin hinsichtlich bestimmter Teile der Wortberichterstattung sowie der gesamten Bildberichterstattung ab und forderte die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung. Zur Begründung führte sie aus, dass es sich bei dem Richtfest um eine private Veranstaltung mit ausschließlich privat geladenen Gästen gehandelt habe. Die Fotos seien heimlich und ohne Kenntnis der Antragstellerin angefertigt und weitergegeben worden. Auch die Wortberichterstattung betreffe eine private Angelegenheit. Zudem liege kein Verstoß gegen die im Zeitpunkt des Festes geltende Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vor.
Die Beschwerdeführerin wies die geltend gemachten Ansprüche am 29. September 2020 zurück. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie bestehe insbesondere hinsichtlich der Art und Weise der Durchführung des Richtfestes der prominenten Antragstellerin ein besonderes öffentliches Interesse. Zudem seien die Aufnahmen nicht heimlich erfolgt. Die Antragstellerin habe es bereitwillig in Kauf genommen, von den zahlreichen anwesenden Gästen fotografiert zu werden.
3. Am 14. Oktober 2020 stellte die Antragstellerin beim Landgericht Berlin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Beschwerdeführerin. Die Begründung des Verfügungsantrages entsprach im Wesentlichen der vorprozessualen Abmahnung vom 21. September 2020.
Allein der Antragstellerin erteilte die Pressekammer des Landgerichts Berlin mit Verfügung vom 15. Oktober 2020 einen gerichtlichen Hinweis. Hierin äußerte die Pressekammer Bedenken. Die Berichterstattung beschränke sich nicht allein auf eine private Feier, sondern befasse sich insbesondere auch mit der Befolgung der Corona-Regeln. Sofern es zutreffe, dass während der Feier gegen Abstandsregeln und die Pflicht zum Tragen einer Maske verstoßen worden sei, bestehe aufgrund der Vorbildfunktion der Antragstellerin kein Unterlassungsanspruch. Der Antragstellerin wurde seitens des Gerichts Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Woche gewährt.
Die Antragstellerin nahm mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2020 Bezug auf den richterlichen Hinweis und erwiderte, dass acht der zehn abgedruckten Fotos keinerlei Belegfunktion für einen etwaigen Verstoß gegen Corona-Regeln hätten und es damit zumindest insoweit an einem öffentlichen Interesse fehle. Dies gelte auch für Teile der Textberichterstattung. Gemäß der im Zeitpunkt des Festes geltenden (Landes-)Infektionsschutzmaßnahmenverordnung hätten zudem für private Feiern im Freien mit ca. 40 Gästen keinerlei Beschränkungen gegolten. Die Unterstellungen im streitgegenständlichen Artikel seien daher unwahr.
Am 3. November 2020 erging erneut ein allein an die Antragstellerin gerichteter schriftlicher Hinweis des Gerichts. Ungeachtet des Vorbringens im Schriftsatz vom 28. Oktober 2020 bestehe nach Ansicht der Pressekammer ein öffentliches Interesse daran, ob die Antragstellerin im Rahmen des Richtfests hinreichend auf die Einhaltung der empfohlenen Hygienemaßnahmen geachtet habe. Ausweislich einzelner Fotos sei ein Mindestabstand zwischen den Gästen jedenfalls nicht zu jeder Zeit gewahrt worden. Dem Verbotsantrag könne daher hinsichtlich bestimmter - durch den Hinweis genau bezeichneter - Bildnisse und Textabschnitte nicht entsprochen werden.
Die Antragstellerin, der Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von drei Tagen gewährt wurde, nahm daraufhin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit Schriftsatz vom 5. November 2020 teilweise zurück.
4. Mit Beschluss vom 10. November 2020 erließ das Landgericht Berlin „wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“ die angegriffene einstweilige Verfügung, die der Beschwerdeführerin Teile der Wort- und Bildberichterstattung untersagte. Zur Begründung verwies das Landgericht ohne nähere Konkretisierung auf die Antragsschrift sowie die beiden Schriftsätze der Antragstellerin vom 28. Oktober und 5. November 2020.
Die einstweilige Verfügung wurde der Beschwerdeführerin am 7. Dezember 2020 zugestellt. Zudem wurden ihr der Verfügungsantrag und die Schriftsätze der Antragstellerin vom 28. Oktober und 5. November 2020 übermittelt.
Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2020 baten die Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin das Landgericht um Übersendung etwaiger gerichtlicher Schreiben oder Aktennotizen in der vorliegenden Sache. Nachdem hierauf keine Reaktion erfolgte, schrieben die Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin das Landgericht erneut mit Schriftsatz vom 23. Dezember 2020 an und forderten dazu auf, die Unterlagen „insbesondere im Hinblick auf die erteilten gerichtlichen Hinweise“ zu übermitteln. Erst auf eine telefonische Nachfrage am 28. Dezember 2020 hin übersandte das Landgericht die Unterlagen inklusive der gerichtlichen Hinweise vom 15. Oktober und 3. November 2020. Die Unterlagen gingen am 5. Januar 2021 bei den Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin ein.
Die Beschwerdeführerin legte mit Schriftsatz vom 18. Januar 2021 Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung ein und beantragte die Aussetzung der Zwangsvollstreckung.
5. Mit bei Gericht am 19. Januar 2021 eingegangener Beschwerdeschrift erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Sie rügte eine Verletzung ihres...
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Beschluss vom 28. September 2023 - 1 BvR 1740/23
...BvR 2743/19 -, Rn. 13; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 16; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 18; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 29; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 16; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 1846/22 -, ......
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Beschluss vom 26. April 2023 - 1 BvR 718/23
...-, Rn. 21 ff.; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 19 ff.; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 25 ff.; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 34 ff.; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 20 ff.; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 184......
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Beschluss vom 24. Mai 2023 - 1 BvR 605/23
...-, Rn. 21 ff.; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 19 ff.; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 25 ff.; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 34 ff.; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 20 ff.; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 184......
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Beschluss vom 25. August 2023 - 1 BvR 1612/23
...BvR 2743/19 -, Rn. 13; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 16; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 18; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 29; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 16; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 1846/22 -, ......
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Beschluss vom 28. September 2023 - 1 BvR 1740/23
...BvR 2743/19 -, Rn. 13; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 16; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 18; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 29; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 16; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 1846/22 -, ......
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...-, Rn. 21 ff.; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 19 ff.; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 25 ff.; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 34 ff.; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 20 ff.; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 184......
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...-, Rn. 21 ff.; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 19 ff.; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 25 ff.; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 34 ff.; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 20 ff.; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 184......
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...BvR 2743/19 -, Rn. 13; vom 6. Februar 2021 - 1 BvR 249/21 -, Rn. 16; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 18; vom 11. Januar 2022 - 1 BvR 123/21 -, Rn. 29; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 16; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 1846/22 -, ......