Beschluss vom 12. Januar 2021 - 2 BvR 2006/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rs20210112.2bvr200615 |
Date | 12 Enero 2021 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Januar 2021 - 2 BvR 2006/15 -, Rn. 1-39, |
Judgement Number | 2 BvR 2006/15 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2006/15 -
über
den Erlass einer Vollstreckungsanordnung
des Herrn Dr. G…, |
- Bevollmächtigter:
- … -
mit den Anträgen |
1. |
der Bundestag und die Bundesregierung sind weiterhin verpflichtet, auf die Europäische Zentralbank (EZB) einzuwirken, damit der EZB-Rat umgehend eine den Anforderungen des Urteils vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 - entsprechende substantiierte und nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung beschließt und den Beschluss öffentlich kommuniziert, oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände zu sorgen, |
2. |
die Bundesregierung hat in geeigneter Weise auf die Bundesbank einzuwirken, damit diese ihre sich aus dem Urteil vom 5. Mai 2020 ergebende Verpflichtung erfüllt, die weitere Beteiligung am Vollzug des PSPP zu unterlassen, |
|
3. |
der Bundesbank ist es untersagt, an Umsetzung und Vollzug des Beschlusses (EU) 2015/774 sowie der hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702, (EU) 2017/100 und des Beschlusses vom 12. September 2019 mitzuwirken, indem sie bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen tätigt oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens beteiligt. Außerdem ist sie verpflichtet, mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine im Rahmen des ESZB abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen |
hier: | Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld
am 12. Januar 2021 beschlossen:
- Die Ablehnung von Richterin Wallrabenstein wegen Besorgnis der Befangenheit wird für begründet erklärt
A.
Der Befangenheitsantrag richtet sich gegen die Mitwirkung von Richterin Prof. Dr. Wallrabenstein im Verfahren auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG.
I.
Mit Schriftsatz vom 7. August 2020 hat der Antragsteller den Erlass folgender Vollstreckungsanordnung beantragt:
1. Der Bundestag und die Bundesregierung sind weiterhin verpflichtet, auf die Europäische Zentralbank (EZB) einzuwirken, damit der EZB-Rat umgehend eine den Anforderungen des Urteils vom 5. Mai 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 – entsprechende substantiierte und nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung beschließt und den Beschluss öffentlich kommuniziert, oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände zu sorgen.
2. Die Bundesregierung hat in geeigneter Weise auf die Bundesbank einzuwirken, damit diese ihre sich aus dem Urteil vom 5. Mai 2020 ergebende Verpflichtung erfüllt, die weitere Beteiligung am Vollzug des PSPP zu unterlassen.
3. Der Bundesbank ist es untersagt, an Umsetzung und Vollzug des Beschlusses (EU) 2015/774 sowie der hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702, (EU) 2017/100 und des Beschlusses vom 12. September 2019 mitzuwirken, indem sie bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen tätigt oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens beteiligt. Außerdem ist sie verpflichtet, mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine im Rahmen des ESZB abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.
II.
Mit demselben Schriftsatz vom 7. August 2020 hat der Antragsteller zugleich Richterin Wallrabenstein, die am 15. Mai 2020 vom Bundesrat zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt und am 22. Juni 2020 vom Bundespräsidenten ernannt worden ist, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, sofern der Senat der Ansicht sein sollte, dass sie an der Entscheidung über die Vollstreckungsanordnung grundsätzlich mitwirken könne. Der Antragsteller habe dem am 5. August 2020 in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel „EZB-Anleihenkäufe – Verhältnismäßig kompliziert“, den er online am 7. August 2020 abgerufen habe, entnommen, dass Richterin Wallrabenstein entgegen seiner Rechtsauffassung an der beantragten Entscheidung über die Vollstreckungsanordnung möglicherweise mitwirken könnte. Für diesen Fall lehne er sie wegen Besorgnis der Befangenheit ab.
III.
Am 21. Juni 2020 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) ein von Konrad Schuller verfasster Artikel „New Kids in Karlsruhe“, der teilweise auf ein Interview der F.A.S. mit der designierten Richterin des Bundesverfassungsgerichts gestützt war. In dem Artikel heißt es unter anderem:
„(...) Wallrabenstein, eine Frau, die ihre Sympathie für die weitere Integration Europas offen zeigt. ‚Rein politisch empfinde ich mich als Europäerin‘, sagte sie der F.A.S. ‚Ich fand es gut, als die Grenzen in Europa offen waren, und ich fand es hart, als sie wegen Corona geschlossen werden mussten. Ich habe rein politisch nichts gegen ein stärkeres Europa.‘ Die Neue fügte dann zwar hinzu, sie spreche hier nur als Bürgerin. ‚Eine andere Frage ist, was die deutsche Verfassung dazu sagt.‘
Trotz dieser Vorsichtsklauseln lässt Wallrabenstein erkennen, dass sie auch als Richterin vielleicht keine andere Person sein wird als in ihrer Eigenschaft als europafreundliche ‚Bürgerin‘. So bekundet sie zwar höflichen Respekt für das umstrittene Zentralbank-Urteil ihrer künftigen Kollegen, dann aber zeigt sie auch Zweifel. (…)
Mit so einer Neuen im Zweiten Senat könnte aus dem knappen fünf zu drei der Integrations-Skeptiker bald ein vier zu vier werden. Das kann schnell sehr wichtig werden, denn der Senat wird schon in wenigen Wochen neue Entscheidungen in dieser Sache treffen müssen. Er hat der Bundesregierung und dem Bundestag aufgetragen, auf die Europäische Zentralbank einzuwirken, damit diese die ‚Verhältnismäßigkeit‘ ihrer Anleihenpolitik erläutere. Er hat vor allem aber ultimativ gefordert, dass diese Erläuterung bis zum 5. August vorliegen müsse, und zwar in Form eines neuen EZB-Ratsbeschlusses. (…)
Wallrabenstein jedenfalls hält es für denkbar, dass das Verfassungsgericht auf seine kaum erfüllbare Forderung an den unabhängigen EZB-Rat nach einem neuen Beschluss nicht wörtlich beharren werde. ‚Ich weiß nicht‘, sagt sie, ‚ob es letztlich so wichtig ist, dass die verlangte Erklärung der EZB in einem neuen Beschluss des Rates ergeht.‘ Vielleicht habe der Zweite Senat nur sichergehen wollen, dass die Bank sich noch einmal ernsthaft mit den Folgen ihres Anleiheprogramms befasse und ein Minimum an formeller Eindeutigkeit gewährleistet werde. Die ‚technische Form‘ sei vielleicht nicht so wichtig. ‚Was zählt, ist eine bessere Transparenz der Entscheidungen.‘ Wenn Politik, Bundesbank und EZB ‚in die richtige Richtung‘ gingen, könnte es im Interesse des Gerichts liegen zu sagen: ‚Das ist schon in Ordnung. Wir sehen, dass unsere Forderungen ernst genommen werden.‘
Wenn es so käme, könnte der Zweite Senat darauf verzichten, die Bundesbank im August zum Ausstieg aus dem EZB-Anleiheprogramm zu zwingen. Wallrabenstein jedenfalls schließt das nicht aus. Vielleicht, sagt sie, könnte es für Karlsruhe zuletzt dann doch ‚eher nicht nötig‘ werden, ‚von sich aus aktiv zu werden‘. Am Ende könnten dann alle ‚über gewisse Verletzungen hinwegkommen, die hier entstanden sind‘. Das sei halt wie im richtigen Leben: ‚Wenn man sich streitet, sollte man ja auch irgendwann Entschuldigung sagen und Schwamm drüber, lasst uns nach vorne blicken.‘“
Am selben Tag erschien in der Onlineausgabe der F.A.S. unter der Rubrik „Exklusiv“ ein von Konrad Schuller verfasster Artikel „Wallrabenstein sieht Lösungen im Streit zwischen Karlsruhe und EZB“, dem das vorstehend genannte Interview ebenfalls zugrunde lag. Der Artikel lautete – auszugsweise –:
„Es gebe Bemühungen in der Politik, aus der Karlsruher Rüge für das Anleihen-Kaufprogramm das Beste zu machen, sagt die designierte Verfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein. So könne eine weitere Eskalation vermieden werden.
Die designierte Verfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein hat im Streit des Bundesverfassungsgerichts mit der Europäischen Zentralbank EZB und dem europäischen Gerichtshof EuGH in Luxemburg konkrete Lösungswege umrissen. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) sagte sie, es sei zu erkennen, ‚dass in der Politik das Bemühen groß ist, zu sagen: Lass uns das Beste daraus machen. Jetzt versuchen wir mal, dem gerecht zu werden, was das Bundesverfassungsgericht erwartet.‘ (…)
Wallrabenstein nahm in diesem Zusammenhang zu den Versuchen deutscher Politiker Stellung, EU-Institutionen als Mittler einzuschalten. Der F.A.S. sagte sie, ihrer Meinung nach sei es ‚richtig‘, dass etwa die Kommission und das Europaparlament versuchten, ‚das Zepter mehr in die Hand zu nehmen‘. Wenn dann die Reaktionen von Politik, Bundesbank und EZB ‚in die richtige Richtung‘ gingen, ‚könnte es im Interesse des Gerichts liegen zu sagen: Das ist schon in Ordnung; wir sehen, dass unsere Forderungen ernst genommen werden‘. (…)
Die designierte Verfassungsrichterin äußerte sich...
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