Beschluss vom 29. April 2021 - 2 BvR 1651/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rs20210429.2bvr165115 |
Judgement Number | 2 BvR 1651/15 |
Date | 29 Abril 2021 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 29. April 2021 - 2 BvR 1651/15 -, Rn. 1-111, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 29. April 2021
2 BvR 1651/15
2BvR 2006/15
- Die Grenzen einer zulässigen Vollstreckungsanordnung gemäß § 35 BVerfGG ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) und der notwendigen Anknüpfung des Verfassungsprozessrechts an den Verfahrens- beziehungsweise Streitgegenstand und stellen insoweit verallgemeinerungsfähige Anforderungen dar, die für die verfassungsgerichtliche Kontrolle aller Verfassungsorgane und Handlungsformen gelten
- Nach Erlass der Sachentscheidung ergangene Maßnahmen sind kein tauglicher Gegenstand von Vollstreckungsanordnungen nach § 35 BVerfGG. Andernfalls würde die ursprüngliche Sachentscheidung ergänzt und erweitert, weil auch die neue rechtliche Situation analysiert und verfassungsrechtlich gewürdigt werden müsste
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1651/15 -
- 2 BvR 2006/15 -
I. |
1. des Herrn Prof. Dr. L…, |
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2. |
des Herrn Prof. Dr. h.c. H…, |
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3. |
des Herrn Prof. Dr. S…, |
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4. |
des Herrn K…, |
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5. |
der Frau T…, |
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sowie 1.729 weiterer Beschwerdeführer, |
- Bevollmächtigte:
- 1. …,
- 2. … -
mit dem Antrag |
||
„Bundesregierung und Bundestag sind in der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 verpflichtet, den Beschwerdeführern die Behebung der durch das Urteil festgestellten Verletzung ihrer Rechte darzulegen und ihnen dazu auch die Einsicht in die von der Europäischen Zentralbank übermittelten, nicht öffentlichen Dokumente zu ermöglichen, die nach ihrer Einschätzung unter anderem belegen würden, dass die Europäische Zentralbank hinreichend nachvollziehbar eine den Anforderungen des Urteils genügende Verhältnismäßigkeitsprüfung des Public Sector Purchase Programme (PSPP) nachgewiesen habe“ |
- 2 BvR 1651/15 -,
II. |
des Herrn Dr. G…, |
- Bevollmächtigter:
- … -
mit den Anträgen |
||
1. |
„der Bundestag und die Bundesregierung sind weiterhin verpflichtet, auf die Europäische Zentralbank (EZB) einzuwirken, damit der EZB-Rat umgehend eine den Anforderungen des Urteils vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 - entsprechende substantiierte und nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung beschließt und den Beschluss öffentlich kommuniziert, oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände zu sorgen, |
|
2. |
die Bundesregierung hat in geeigneter Weise auf die Bundesbank einzuwirken, damit diese ihre sich aus dem Urteil vom 5. Mai 2020 ergebende Verpflichtung erfüllt, die weitere Beteiligung am Vollzug des PSPP zu unterlassen, |
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3. |
der Bundesbank ist es untersagt, an Umsetzung und Vollzug des Beschlusses (EU) 2015/774 sowie der hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702, (EU) 2017/100 und des Beschlusses vom 12. September 2019 mitzuwirken, indem sie bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen tätigt oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens beteiligt. Außerdem ist sie verpflichtet, mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine im Rahmen des ESZB abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen“ |
- 2 BvR 2006/15 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Maidowski,
Langenfeld,
Härtel
am 29. April 2021 beschlossen:
- Die Anträge auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung werden verworfen.
A.
Die Antragsteller begehren jeweils den Erlass einer Vollstreckungsanordnung (§ 35 BVerfGG).
I.
Mit Urteil vom 5. Mai 2020 (BVerfGE 154, 17) hat der Senat in Ziffer 3 des Tenors festgestellt, dass die Bundesregierung – hinsichtlich der Antragsteller zu I. auch der Deutsche Bundestag – die Antragsteller zu I. und den Antragsteller zu II. in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verletzt haben. Wörtlich heißt es (BVerfGE 154, 17 <22 f.>):
3. Bundesregierung und – hinsichtlich der Beschwerdeführer zu I. und II. – auch der Deutsche Bundestag haben die Beschwerdeführer zu I., II. und III. in ihrem Recht aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes verletzt, da sie es unterlassen haben, geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dass der Rat der Europäischen Zentralbank
a) im Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (Public Sector Asset Purchase Programme, EZB/2015/10, ABl EU Nr. L 121 vom 14. Mai 2015, S. 20),
b) geändert durch Beschluss (EU) 2015/2101 der Europäischen Zentralbank vom 5. November 2015 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/33, ABl EU Nr. L 303 vom 20. November 2015, S. 106), Beschluss (EU) 2015/2464 der Europäischen Zentralbank vom 16. Dezember 2015 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/48, ABl EU Nr. L 344 vom 30. Dezember 2015, S. 1), Beschluss (EU) 2016/702 der Europäischen Zentralbank vom 18. April 2016 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2016/8, ABl EU Nr. L 121 vom 11. Mai 2016, S. 24) und Beschluss (EU) 2017/100 der Europäischen Zentralbank vom 11. Januar 2017 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2017/1, ABl EU Nr. L 16 vom 20. Januar 2017, S. 51)
weder geprüft noch dargelegt hat, dass die beschlossenen Maßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
Das Urteil verpflichtet Bundesregierung und Bundestag, dem PSPP entgegenzutreten, soweit die Europäische Zentralbank (EZB) seine Verhältnismäßigkeit nicht dargelegt hat und es wegen der fehlenden Darlegung als Ultra-vires-Akt qualifiziert worden ist. Die beiden Verfassungsorgane sind demnach verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken; hierbei müssen sie gegenüber der EZB ihre Rechtsauffassung deutlich machen oder auf sonstige geeignete Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgen. Diese Pflicht erstreckt das Urteil auf die am 1. Januar 2019 begonnene Reinvestitionsphase des PSPP und seine Wiederaufnahme zum 1. November 2019; insoweit stellt es fest, dass die Pflicht der Verfassungsorgane fortdauere, die Entscheidungen des Eurosystems über Ankäufe von Staatsanleihen unter dem PSPP zu beobachten und mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln auf die Einhaltung des dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) zugewiesenen Mandats hinzuwirken (vgl. BVerfGE 154, 17 <150 f. Rn. 229, 232 f.>).
Mit Blick auf die Bundesbank hat der Senat ausgesprochen, dass diese nach einer für die Abstimmung im ESZB notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an der Umsetzung und dem Vollzug des Beschlusses (EU) 2015/774 sowie der hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702, (EU) 2017/100 und des Beschlusses vom 12. September 2019 nicht mehr mitwirken, keine bestandserweiternden Ankäufe von Anleihen tätigen oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens nicht mehr beteiligen darf, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung ist die Bundesbank verpflichtet, mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine im Rahmen des ESZB abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen zu sorgen (vgl. BVerfGE 154, 17 <151 f. Rn. 235>).
II.
Am 3./4. Juni 2020 fand eine geldpolitische Sitzung des EZB-Rates statt, auf der nach Erörterung unterschiedlicher geldpolitischer Erwägungen (vgl. Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der EZB vom 3.-4. Juni 2020, S. 17-20) sechs Beschlüsse gefasst wurden. Von diesen sind für den vorliegenden Zusammenhang die Beschlüsse Nr. 4 und Nr. 5 bedeutsam. Sie haben folgenden Wortlaut (vgl. Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank vom 3.-4. Juni 2020, S. 22):
(4) Darüber hinaus würden die Nettoankäufe im Rahmen des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme – APP) im Umfang von monatlich 20 Mrd. € zusammen mit den Ankäufen im Zuge des zusätzlichen vorübergehenden Rahmens in Höhe von 120 Mrd. € bis zum Ende des Jahres fortgesetzt. Der...
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