Beschluss vom 13. Juni 2017 - 2 BvE 1/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2017:es20170613.2bve000115 |
Date | 13 Junio 2017 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Juni 2017 - 2 BvE 1/15 - Rn. (1-161), |
Judgement Number | 2 BvE 1/15 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Juni 2017
2 BvE 1/15
- 1. Aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgt ein Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages, der Fraktionen und der einzelnen Abgeordneten gegenüber der Bundesregierung, dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert. Dies gilt auch für Anfragen aus dem Bereich der Tätigkeit von Nachrichtendiensten.
- 2. Angesichts der Bedeutung, die dem Einsatz verdeckter Quellen bei der Informationsbeschaffung der Nachrichtendienste zukommt, kann sich die Bundesregierung zur Auskunftsverweigerung trotz des erheblichen Informationsinteresses des Parlaments in diesem Bereich aber in der Regel auf eine Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte verdeckt handelnder Personen berufen, wenn deren Identität bei der Erteilung der begehrten Auskünfte offenbart würde oder ihre Identifizierung möglich erscheint.
- 3. Der Schutz von Informationsquellen und insbesondere von V-Leuten dient nicht nur den Interessen der betroffenen Personen, sondern hat auch für die Arbeitsweise und Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste erhebliche Bedeutung. Werden Informationen über V-Leute und sonstige verdeckte Quellen herausgegeben, schwächt dies das Vertrauen in die Wirksamkeit von Geheimhaltungszusagen.
- 4. Bei Fragen zum Einsatz konkreter Personen als V-Leute sind aber eng begrenzte Ausnahmefälle denkbar, in denen das parlamentarische Informationsinteresse überwiegt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn aufgrund besonderer Umstände eine Gefährdung grundrechtlich geschützter Belange ausgeschlossen ist oder zumindest fernliegend erscheint und eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht ernsthaft zu befürchten ist.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 1/15 -
über
die Anträge festzustellen,
a) |
dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu 1. und den Deutschen Bundestag durch die Antwort vom 24. November 2014 (BTDrucks 18/3259, S. 8 f.) auf die Frage 2 a) der Kleinen Anfrage vom 8. Oktober 2014 (BTDrucks 18/3117, S. 3) in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG verletzt hat, |
|
b) |
dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu 2. und den Deutschen Bundestag durch die Antworten vom 9. Februar 2015 (BTDrucks 18/3985, S. 5, 6 und 7) auf die Fragen 14 bis 16, 19 bis 25 und 28 bis 31 der Kleinen Anfrage vom 21. Januar 2015 (BTDrucks 18/3810, S. 3 f.) in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG verletzt hat. |
Antragstellerinnen: |
1. |
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag, vertreten durch die Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt und Dr. Anton Hofreiter, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, |
2. |
Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, vertreten durch die Fraktionsvorsitzenden Dr. Sahra Wagenknecht und Dr. Dietmar Bartsch, Platz der Republik 1, 11011 Berlin |
- Bevollmächtigter:
-
Prof. Dr. Matthias Bäcker,
Ludwig-Frank-Straße 52, 68199 Mannheim -
Antragsgegnerin: |
Bundesregierung, |
- Bevollmächtigte:
-
Rechtsanwälte Redeker Sellner Dahs,
Willy‐Brandt‐Allee 11, 53113 Bonn -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
König,
Maidowski,
Langenfeld
am 13. Juni 2017 beschlossen:
- 1. Die Antragsgegnerin hat
- a) die Antragstellerin zu 1. und den Deutschen Bundestag durch ihre Antwort vom 24. November 2014 (Bundestagsdrucksache 18/3259) auf Frage 2 a) der Kleinen Anfrage vom 8. Oktober 2014 (Bundestagsdrucksache 18/3117) sowie
- b) die Antragstellerin zu 2. und den Deutschen Bundestag durch ihre Antwort vom 9. Februar 2015 (Bundestagsdrucksache 18/3985) auf die Fragen 14 bis 16, 19 bis 23 und 28 bis 31 der Kleinen Anfrage vom 21. Januar 2015 (Bundestagsdrucksache 18/3810)
- nach Maßgabe der Gründe in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt.
- 2. Im Übrigen werden die Anträge zurückgewiesen.
A.
Die Antragstellerinnen sind Fraktionen des Deutschen Bundestages. Sie machen die unvollständige Beantwortung zweier Kleiner Anfragen der Antragstellerinnen zu Erkenntnissen der Nachrichtendienste über das Attentat auf das Münchner Oktoberfest am 26. September 1980 und einer diesbezüglich möglichen Verstrickung von Vertrauensleuten (im Folgenden: V-Leute) dieser Behörden geltend.
I.
1. Am 26. September 1980 um 22.20 Uhr explodierte am Haupteingang des Münchner Oktoberfests ein Sprengsatz. Neben dem Attentäter, dem 21 Jahre alten Gundolf Köhler aus Donaueschingen, starben 12 Personen im Alter zwischen 11 und 52 Jahren; 211 Menschen wurden verletzt. Das Oktoberfestattentat gilt als der schwerste rechtsterroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Generalbundesanwalt schloss die Ermittlungen zu dem Attentat mit einem Schlussbericht vom 23. November 1982 ab. Darin hieß es, für eine Tatbeteiligung Dritter sprächen unterschiedliche Beweiserkenntnisse, die einen abschließenden Nachweis der Tatbeteiligung anderer Personen jedoch nicht zuließen. Hinweise darauf, dass Köhler nicht als Alleintäter gehandelt hatte, ergaben sich insbesondere aus den Aussagen zweier Zeugen.
2. Ungeklärt blieb nach Abschluss der Ermittlungen die Rolle des 1937 geborenen Karl-Heinz Hoffmann, des Gründers der so genannten „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Der von Hoffmann im Jahr 1973 ins Leben gerufene, nach militärischen Gesichtspunkten organisierte Verband wurde seit seiner Gründung vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Bei Hoffmann wurde im Rahmen einer bereits vor dem Attentat durchgeführten Durchsuchung Material sichergestellt, aus dem sich ergab, dass der Attentäter Köhler im Februar 1976 im Briefwechsel mit Hoffmann gestanden hatte; er soll auch an zwei Übungen der Wehrsportgruppe teilgenommen haben (vgl. Fromm, Die „Wehrsportgruppe Hoffmann“: Darstellung, Analyse und Einordnung, 1998, S. 331 f.; Chaussy, Oktoberfest - Das Attentat, 2014, S. 37).
Die Wehrsportgruppe hatte bis zu ihrem Verbot im Jahr 1980 circa 400 Mitglieder. In der Verbotsverfügung vom 16. Januar 1980 wurde die sofortige Vollziehung der Verfügung angeordnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1980 - 1 A 3/80 -, juris, Rn. 6), weshalb sich die Gruppierung nach dem Verbot auflöste. Sie wurde verboten, weil ihre Organisation und ihre Tätigkeit der allmählichen Herbeiführung einer neuen staatlichen Ordnung unter gleichzeitiger Aushöhlung der verfassungsmäßigen Ordnung dienten (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Dezember 1980 - 1 A 3/80 -, juris, Rn. 100 ff.). Fünfzehn ehemalige Mitglieder schlossen sich nach dem Verbot als „Wehrsportgruppe Ausland“ im Libanon zusammen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellte in dem Verfassungsschutzbericht für das Jahr 1981 fest, es seien durch die „Wehrsportgruppe Ausland“ Anschläge auf Personen und Einrichtungen im Bundesgebiet geplant und zum Teil bereits vorbereitet worden (vgl. Verfassungsschutzbericht 1981, S. 27 f.).
3. Auch der Name Heinz Lembke tauchte im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Oktoberfestattentat wiederholt auf. Er war „Milizionär“ und „Wehrsportler“ und nahm bis 1978 regelmäßig an Übungen der Reservistenkameradschaft der „Deutschen Aktionsgruppen“ teil. Bei einer im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens am 29. September 1980 durchgeführten Durchsuchung seines Hauses konnten die Ermittler neben ein wenig Zündschnur und einem Gewehrmagazin zunächst weder Sprengstoff noch Waffen sicherstellen. Jedoch stieß ein Waldarbeiter am 26. Oktober 1981 in der Nähe des Hauses von Lembke auf wasserdicht verpackte Kisten mit Gewehrmunition, Sprengstoff und Sprengmitteln. Im Laufe der Ermittlungen konnten in weiteren nahezu 30 Depots Waffen sichergestellt werden. Lembke erhängte sich am 1. November 1981 in der Untersuchungshaft und soll folgende schriftliche Mitteilung hinterlassen haben: „Genossen! Ihr wisst, weshalb ich nicht mehr leben darf. Wolfszeit! Heil Euch, Heinz Hermann Ernst Lembke“ (vgl. Chaussy, Oktoberfest - Das Attentat, 2014, S. 217).
4. Im Dezember 2014 teilte der Generalbundesanwalt mit, er habe die Ermittlungen zum Oktoberfestattentat wieder aufgenommen, Anlass dafür seien Angaben einer bis dahin unbekannten Zeugin.
II.
1. Am 8. Oktober 2014 richteten die Antragstellerin zu 1. und verschiedene Mitglieder des Bundestages eine Kleine Anfrage unter der Überschrift „Oktoberfest-Attentat - Wiederaufnahme der Ermittlungen zu Nazi-Hintermännern“ an die Antragsgegnerin (BTDrucks 18/3117).
a) Die Kleine Anfrage leiteten sie mit dem Hinweis darauf ein, dass noch immer gewichtige Zweifel am Ermittlungsergebnis bestünden, wonach Gundolf Köhler die Tat allein geplant und ausgeführt habe. Der Münchner Stadtrat und der Bayerische Landtag hätten bereits 2011 gefordert, der Generalbundesanwalt solle die Ermittlungen wieder aufnehmen. Die Kleine Anfrage vom 8. Oktober 2014 enthielt insbesondere Fragen zu dem...
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