BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 745/18 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Y…, |
- Bevollmächtigter:
-
Rechtsanwalt Hans Meyer-Mews,
in Sozietät Rechtsanwälte Meyer-Mews, Lam, Rotter,
Buchtstraße 13, 28195 Bremen -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 5. April 2018 - 1 Ws 111/18 -, |
b) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 5. März 2018 - 1 Ws 111/18 -, |
|
c) |
den Beschluss des Landgerichts Oldenburg vom 23. Februar 2018 - 5 Ks 1202 Js 47211/17 (21/17) - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. September 2018 einstimmig beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Oldenburg vom 23. Februar 2018 sowie gegen zwei Beschlüsse des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 5. März 2018 und vom 5. April 2018, die die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft und einen diesbezüglich gerügten Gehörsverstoß betreffen.
I.
Der Beschwerdeführer wurde am 27. Juli 2017 vorläufig festgenommen und aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Oldenburg vom 28. Juli 2017 wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen, in der er sich seitdem ununterbrochen befindet. Der Haftbefehl war auf den dringenden Tatverdacht des Totschlages in Tatmehrheit mit tateinheitlich verwirklichtem versuchten Totschlag und gefährlicher Körperverletzung gestützt.
Dem Beschwerdeführer wurde folgender Sachverhalt zur Last gelegt: Am Abend des 27. Juli 2017 traf sich der Beschwerdeführer in den Geschäftsräumen der Firma A. C. T. in Oldenburg mit N. C. und Z. C. . Zwischen den Beteiligten kam es zu einer Auseinandersetzung, die zunehmend aggressiv geführt wurde. Im Zuge der Zuspitzung des Streites zog der Beschwerdeführer, der nicht über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügte, eine von ihm mitgebrachte halbautomatische Kurzwaffe vom Typ Walther P22, die mit scharfer Kleinkaliber-Munition geladen war, und gab mehrere Schüsse ab. N. C. wurde am Bein verletzt, Z. C. von drei Schüssen im Oberkörper getroffen; er verstarb infolge eines Herzdurchschusses noch am Tatort.
Unter dem 28. September 2017 erhob die Staatsanwaltschaft Oldenburg gegen den Beschwerdeführer Anklage unter anderem wegen des Vorwurfs des Totschlags, des versuchten Totschlags und des unerlaubten Waffenbesitzes. Die Anklage wurde zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Landgericht Oldenburg eröffnet. Im Verlauf der Hauptverhandlung kam das Landgericht zu der vorläufigen Bewertung, dass der Beschwerdeführer bei Abgabe der Schüsse nicht ausschließbar in Notwehr gehandelt habe. Mit Beschluss vom 16. Februar 2018 änderte das Landgericht den Haftbefehl des Amtsgerichts dahingehend ab, dass der Beschwerdeführer nunmehr dringend verdächtig sei, am Tattag zur Tatzeit einen Verstoß gegen das Waffengesetz begangen zu haben. Zur Begründung führte das Landgericht unter anderem aus:
Bei dem Angeklagten besteht die hohe Gefahr, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entziehen könnte, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Angeklagte ist türkischer Staatsbürger, der türkischen Sprache mächtig und verfügt über Kontakte in sein Heimatland. Eine Flucht in die Türkei liegt im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten. Ein großer Fluchtanreiz liegt hier außerdem in der hier gegebenen Gefährdungslage, wie sie sich etwa aus der Gefährdungsbewertung der Polizei ergibt […]. Danach liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte Racheaktionen der Familie C. aufgrund des Verschwindens des R. C. zu fürchten hat. Nach überzeugender polizeilicher Einschätzung haben sich aus diesem Grund die ebenfalls insoweit bedrohten A. C. sowie G. P. H. in die Türkei abgesetzt und befinden sich dort an einem unbekannten Aufenthaltsort. Es ist zu befürchten, dass der Angeklagte auch aus diesem Grunde in Freiheit unverzüglich untertauchen würde.
Der vielfach, auch wegen Gewaltdelikten, vorbestrafte Angeklagte hat aufgrund des Verstoßes gegen das Waffengesetz eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu erwarten. In Anbetracht der Straferwartung ist die Anordnung der Untersuchungshaft auch nicht unverhältnismäßig, § 112 Abs. 1 S. 2 StPO. Die Untersuchungshaft steht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis.
Mit - nicht rechtskräftigem - Urteil vom 23. Februar 2018 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Mit Beschluss vom selben Tage ordnete das Landgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft aus den Gründen des Beschlusses vom 16. Februar 2018 nach Maßgabe der Verurteilung an.
Mit Verteidigerschriftsatz vom 26. Februar 2018 legte der Beschwerdeführer gegen diese Haftfortdauerentscheidung Beschwerde ein. Das Landgericht half der Beschwerde mit Beschluss vom 27. Februar 2018 nicht ab.
Mit Verfügung vom 28. Februar 2018 nahm die Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg Stellung zur Haftbeschwerde. Diese sei aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung unbegründet, denn das Landgericht sei zu Recht vom Haftgrund der Fluchtgefahr ausgegangen. Auch rechtfertige die Beschwerdebegründung keine andere Entscheidung. Die Haftbeschwerde sei daher zu verwerfen. Diese Stellungnahme wurde dem Beschwerdeführer zunächst nicht zugeleitet.
Mit Beschluss vom 5. März 2018 verwarf das Oberlandesgericht die Beschwerde als unbegründet. Dazu führte es unter anderem aus:
Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision und ferner gegen die Haftfortdauerentscheidung mit dem in Bezug genommenen Schriftsatz seines Verteidigers vom 26. Februar 2018 Beschwerde eingelegt.
Die Strafkammer hat mit Beschluss vom 27. Februar 2018 - auf dessen Begründung der Senat verweist - der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Senat vorgelegt.
[…]
Der Angeklagte ist aufgrund des Schuldspruchs des Landgerichts Oldenburg vom 23. Februar 2018 eines Verstoßes gegen das Waffengesetz dringend verdächtig. Die Beurteilung des - von der Beschwerde nicht ausdrücklich in Frage gestellten, sondern vielmehr bestätigten - dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht aufgrund der Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattgefunden hat, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder ob dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber, jedenfalls solange - wie hier - das schriftliche Urteil noch nicht vorliegt, keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme.
Die Strafkammer hat das Vorliegen des Haftgrundes der Fluchtgefahr rechtsfehlerfrei bejaht, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die im angefochtenen Beschluss vermisste Begründung hat die Kammer jedenfalls im Nichtabhilfebeschluss nachgeholt.
Fluchtgefahr ist gegeben, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich - zumindest für eine gewisse Zeit - dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich dem Verfahren zur Verfügung halten. Je größer die Straferwartung ist, desto weniger Gewicht ist auf andere Umstände zu legen. Bei einer besonders hohen Straferwartung ist lediglich zu prüfen, ob fluchthemmende Umstände gegeben sind, die die Fluchtgefahr ausräumen können [...].
Nach diesen Maßstäben kann nach der vorzunehmenden Gesamtwürdigung nicht davon ausgegangen werden, dass der vielfach, u.a. im Bereich von Gewaltdelikten, erheblich vorbestrafte Angeklagte sich dem Verfahren zur Verfügung hält. Die Straferwartung hat sich für den Angeklagten mit der im Urteil erkannten, nicht geringen Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten erstmals konkretisiert. Zudem ist der Angeklagte türkischer Staatsbürger, der türkischen Sprache mächtig und verfügt über Kontakte in sein Heimatland.
Nach der Gefährdungsbewertung der Polizei vom 1. September 2017 liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeklagte sowie A. C. und G. P. H. Racheaktionen der Familie C. aufgrund des Verschwindens des R. C. zu befürchten haben. Diese Einschätzung hat sich aufgrund der Äußerung des Nebenklägers im Rahmen seines Schlussvortrages im Hauptverhandlungstermin vom 23. Februar 2018 bestätigt, indem er angab, dass er den Angeklagten für den Mörder seines Bruders sowie seines Sohnes halte und diesen noch in 100 Jahren verfolgen werde. Aufgrund dieser Bedrohungslage haben sich A. C. und G. P. H. bereits nach den polizeilichen Ermittlungen in die Türkei abgesetzt und befinden sich dort an einem unbekannten Aufenthaltsort. Dieser Umstand begründet eine hohe...