Beschluss vom 17. Dezember 2020 - 2 BvR 1787/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20201217.2bvr178720 |
Date | 17 December 2020 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Dezember 2020 - 2 BvR 1787/20 -, Rn. 1-82, |
Judgement Number | 2 BvR 1787/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1787/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn K…, |
- Bevollmächtigter:
-
… -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 9. September 2020 - III-4 Ws 159/20 -, |
b) |
den Beschluss des Landgerichts Duisburg vom 14. August 2020 - 51 KLs-145 Js 151/13-5/20 -, |
|
c) |
den Haftbefehl des Landgerichts Duisburg vom 9. Juni 2020 - 51 KLs-145 Js 151/13-5/20 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
am 17. Dezember 2020 einstimmig beschlossen:
- Die Beschlüsse des Landgerichts Duisburg vom 9. Juni 2020 - 51 KLs-145 Js 151/13-5/20 - und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 9. September 2020 - III-4 159/20 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 des Grundgesetzes
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Haftbefehl des Landgerichts Duisburg vom 9. Juni 2020, gegen den Beschluss des Landgerichts vom 14. August 2020, durch den der gegen diesen Haftbefehl eingelegten Beschwerde nicht abgeholfen wurde, und gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 9. September 2020, der die Beschwerde verwarf. Die Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer mit dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung verbunden, ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
I.
1. a) Die Staatsanwaltschaft Duisburg führte – zunächst verdeckt – seit dem Jahr 2013 ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in mehreren besonders schweren Fällen gemäß § 266a Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 StGB in Tateinheit mit Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Duisburg am 11. Oktober 2016 Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Nach diesem Haftbefehl soll er in der Zeit vom 15. September 2011 bis zum 13. Oktober 2015 als Geschäftsführer eines Bauunternehmens in 56 rechtlich selbstständigen Fällen Abgaben zur Sozialversicherung für die bei dem Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer nicht abgeführt und in weiteren 52 Fällen Lohnsteuern nicht entrichtet haben. Insgesamt soll den Sozialversicherungsträgern und den Finanzbehörden ein Schaden in Höhe von mindestens 2,5 Millionen Euro entstanden sein.
Das Gericht nahm die Haftgründe der Flucht- und der Verdunkelungsgefahr an. Den Haftgrund der Fluchtgefahr begründete es mit dem durch die Straferwartung ausgelösten Fluchtanreiz. Angesichts der Schadenshöhe habe der Beschwerdeführer mit einer mehrjährigen Haftstrafe zu rechnen, zumal sich die Schadenssumme von 2,5 Millionen Euro nach kriminalistischer Erfahrung nach der Auswertung der beschlagnahmten Beweismittel noch erhöhen werde. Die hohe Wahrscheinlichkeit einer Flucht ergebe sich aus den starken Bindungen des Beschwerdeführers zu seiner bosnisch/serbischen Heimat, wo er sich ausweislich der Reisestempel in seinem Pass im Jahr 2016 mehrmals aufgehalten habe. Grundeigentum in Deutschland sei nicht festgestellt worden. Das Haus, in dem er mit seiner Familie lebe, sei angemietet. Seine Lebensgrundlage – der Betrieb eines Bauunternehmens – werde durch das Verfahren „vermutlich weitestgehend zerschlagen“. Die Umstände des von dem Beschwerdeführer durchgeführten Verkaufs seines Unternehmens bekräftigten den Haftgrund der Fluchtgefahr. Käufer sei ein geschäftlich unerfahrener Serbe, der mehr als 100 Kilometer von dem Sitz des Unternehmens entfernt wohne. Zudem sei das Unternehmen lediglich wenige Tage nach der Durchsuchung der Geschäftsräume eines anderen Unternehmens aus der Baubranche, dem das Unternehmen des Beschwerdeführers im ersten Quartal 2015 etwa 345.000 Euro für vermutlich nicht erbrachte Fremdleistungen in Rechnungen gestellt habe, verkauft worden. Auch ohne Ausreise des Beschwerdeführers bestehe die Gefahr, dass er unter einer falschen Identität untertauche, denn in der Vergangenheit habe er sich „schnell und leicht“ gefälschte Ausweise besorgen können. So sei er im Jahr 1995 mit einem gefälschten Ausweis nach Deutschland eingereist. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung im Jahr 2005 sei außerdem ein weiterer gefälschter Reisepass aufgefunden worden. Im Jahr 2005 habe ein Zeuge zudem ausgesagt, der Beschwerdeführer könne gefälschte Pässe besorgen. Schließlich seien auch zwei Arbeitnehmer seines Unternehmens mit gefälschten Pässen ausgestattet gewesen.
b) Der Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer konnte zunächst nicht vollzogen werden. Als die ermittelnden Zollbeamten die Wohnung und die Geschäftsräume des Beschwerdeführers Anfang November 2016 zur Sicherstellung von Beweismitteln und zur Festnahme des Beschwerdeführers durchsuchten, hielt sich dieser im Ausland auf. Am 28. November 2016 erschien er zu einem Haftprüfungstermin vor dem Amtsgericht Duisburg, das den Haftbefehl in diesem Termin entsprechend zuvor zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung ausgehandelter Auflagen außer Vollzug setzte. Das Gericht legte dem Beschwerdeführer auf, sich täglich bei dem für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeirevier zu melden, eine Sicherheit in Höhe von 50.000 Euro zu leisten und seinen Pass abzugeben.
c) Das Amtsgericht änderte die Auflagen aus dem Außervollzugsetzungsbeschluss in der Folge mehrfach ab. Nach dem Beschluss vom 9. Dezember 2016 musste sich der Beschwerdeführer zunächst zweimal wöchentlich, nach dem Beschluss vom 16. Mai 2017 nur noch einmal wöchentlich bei der Polizei melden. Zwischenzeitlich war die Meldeauflage – mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft – für wenige Wochen ausgesetzt, um es dem Beschwerdeführer zu ermöglichen, seine schwer kranke Mutter in seiner Heimat zu besuchen. Auf – nach § 120 Abs. 3 Satz 1 StPO bindenden – Antrag der Staatsanwaltschaft hob das Amtsgericht den Haftbefehl mit Beschluss vom 23. Oktober 2017 auf.
2. a) Am 6. April 2020 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zur Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Duisburg. Sie legte dem Beschwerdeführer Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 136 Fällen und Steuerhinterziehung in 63 Fällen zur Last. Er soll in der Zeit vom 29. März 2011 bis zum 26. Februar 2016 als Geschäftsführer zweier Bauunternehmen gegenüber den zuständigen Einzugsstellen für die Sozialversicherungsbeiträge und den zuständigen Finanzbehörden die tatsächlichen Löhne der Arbeitnehmer dieser Gesellschaften nicht oder zu niedrig angegeben haben und deshalb fällige Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuer nicht oder in geringerer Höhe als entstanden gezahlt haben. Insgesamt habe er auf diese Weise einen Schaden von etwas mehr als 4,7 Millionen Euro verursacht. Die Staatsanwaltschaft wies darauf hin, dass die Einziehung eines Geldbetrages in Höhe der Schadenssumme nach §§ 73 ff. StGB in Betracht komme. Die Anklageschrift wurde dem Beschwerdeführer und seinen Verteidigern Ende Mai 2020 zugestellt.
Mit Anklageerhebung beantragte die Staatsanwaltschaft, gegen den Beschwerdeführer einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift zu erlassen und diesen Haftbefehl in Vollzug zu setzen. Zur Begründung führte sie – weitgehend wortgleich – dieselben Gründe an, die das Amtsgericht auch in dem Haftbefehl vom 11. Oktober 2016 zur Begründung des Haftgrunds der Fluchtgefahr herangezogen hatte, und verwies darauf, dass sich der Schaden nach Ermittlungsabschluss auf fast 4,8 Millionen Euro erhöht habe. Überdies müsse der Beschwerdeführer damit rechnen, für den entstandenen Schaden persönlich in Haftung genommen zu werden, wodurch ihm in Deutschland dauerhaft kein über den Pfändungsfreibeträgen liegendes Einkommen mehr bleibe. Da der Beschwerdeführer den Finanzbehörden und den Sozialversicherungsträgern durch eine Flucht ins Ausland den Zugriff auf sein mögliches Einkommen erschweren, wenn nicht sogar dauerhaft vereiteln könne, ergebe sich auch daraus ein erheblicher Fluchtanreiz.
b) Das Landgericht erließ am 9. Juni 2020 antragsgemäß den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Es erachtete ihn der mit der Anklageschrift zur Last gelegten Taten als dringend verdächtig und nahm den Haftgrund der Fluchtgefahr an.
Den Haftgrund stützte das Gericht auf den sich aus der Straferwartung ergebenden Fluchtanreiz. Der nicht vorbestrafte Beschwerdeführer habe eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Die realistische Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung nach der Verbüßung von zwei Dritteln der zu erwartenden Strafe nach § 57 StGB führe zu keiner anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Die erhebliche Straferwartung folge aus der...
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