Beschluss vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20220421.1bvr081222 |
Date | 21 Abril 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 812/22 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 1-29, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 812/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der (…) SE, vertreten durch: (…), |
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Hamburg |
|
vom 8. März 2022 - 324 O 77/22 - |
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Paulus,
Christ
und die Richterin Härtel
am 21. April 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 8. März 2022 - 324 O 77/22 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.
- Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
I.
Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richten sich gegen eine einstweilige Verfügung, die die Pressekammer des Landgerichts Hamburg ohne Anhörung der Beschwerdeführerin erlassen hat.
1. Das zugrundeliegende Verfahren betrifft die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen.
Am 3. Februar 2022 veröffentlichte die Beschwerdeführerin auf einer von ihr verantworteten Internetplattform einen Artikel anlässlich der geplanten Teilnahme der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: die Antragstellerin) an einer Reality-TV-Sendung. Dabei berichtete sie in Wort und Bild unter anderem über die mutmaßliche Tätigkeit der Antragstellerin bei verschiedenen Begleitagenturen. Der Bericht umfasste insbesondere zwei Fotografien, auf denen die Antragstellerin mit verfremdetem Gesicht abgebildet ist und die mit einem Wasserzeichen der Webseite einer Begleitagentur versehen sind.
2. Mit vierseitigem Schriftsatz vom 9. Februar 2022 ließ die Antragstellerin die Beschwerdeführerin abmahnen und verlangte bis zum 14. Februar 2022 die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung hinsichtlich dieser Fotografien. Die Veröffentlichung der Bildnisse sei zu unterlassen, da die Antragstellerin weder der Beschwerdeführerin noch den in Bezug genommenen Quellen eine Einwilligung erteilt habe und keine Ausnahme vom Einwilligungserfordernis vorliege.
Die Beschwerdeführerin wies die Abmahnung mit Schreiben vom 14. Februar 2022 zurück. Sie habe ausschließlich Bilder verwendet, die ohnehin für jedermann im Internet abrufbar gewesen seien, weil die Antragstellerin damit für ihre Dienstleistungen geworben habe.
3. Unter dem 2. März 2022 beantragte die Antragstellerin beim Landgericht Hamburg den Erlass einer einstweiligen Verfügung, es der Beschwerdeführerin unter Androhung von Ordnungsmitteln zu untersagen, die beiden Bildnisse der Antragstellerin ohne deren Einwilligung öffentlich zur Schau zu stellen/stellen zu lassen und/oder zu verbreiten/verbreiten zu lassen. In dem sieben Seiten umfassenden Schriftsatz wurde erstmalig vorgetragen, die Fotografien stammten von zwei näher bezeichneten Internetseiten, auf denen sie ohne Einwilligung verbreitet und inzwischen gelöscht worden seien. Die Löschung der Bilder von einer dritten Internetseite habe die Antragstellerin bisher nicht durchsetzen können. Ursprünglich seien die Bildnisse mit ihrer Einwilligung unter einem Pseudonym auf einer Agenturseite veröffentlicht worden, bis sie im April 2021 gelöscht worden seien. Zur Glaubhaftmachung legte die Antragstellerin eine eidesstattliche Versicherung vom 1. März 2022 vor.
4. Mit Beschluss vom 8. März 2022 erließ das Landgericht Hamburg wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung antragsgemäß die einstweilige Verfügung. Zur Begründung stützte sich das Landgericht maßgeblich auf die Angaben der Antragstellerin zur Herkunft der Fotografien, die sie durch ihre eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht habe. Eine Anhörung der Beschwerdeführerin war nicht erfolgt.
5. Nach der Zustellung der einstweiligen Verfügung legte die Beschwerdeführerin Widerspruch ein. Eine mündliche Verhandlung ist derzeit noch nicht terminiert.
6. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren.
7. Die Begünstigte der einstweiligen Verfügung hat im Verfahren der einstweiligen Anordnung Stellung genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei gelten, selbst wenn eine Verfassungsbeschwerde in der Sache Aussicht auf Erfolg hat, für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der insoweit grundsätzlich maßgeblichen Folgenabwägung strenge Maßstäbe (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; 111, 147 <152 f.>; stRspr).
Die Anforderungen, die sich aus der prozessualen Waffengleichheit in äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren ergeben, sind eingehend verfassungsgerichtlich klargestellt (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 ff. und - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 27 ff. sowie Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3....
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