Beschluss vom 22. Oktober 2019 - 2 BvR 1661/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2019:rk20191022.2bvr166119 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Oktober 2019 - 2 BvR 1661/19 -, Rn. (1-52), |
Date | 22 Octubre 2019 |
Judgement Number | 2 BvR 1661/19 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1661/19 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn B..., |
- Bevollmächtigte:
- 1. …,
- 2. … -
gegen |
den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 23. August 2019 - 1 Ausl (A) 4/19 (2/19) - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 22. Oktober 2019 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 23. August 2019 - 1 Ausl (A) 4/19 (2/19) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Russische Föderation für zulässig erklärt; er wird insoweit aufgehoben
- Die Sache wird an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht zurückverwiesen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft zur Strafverfolgung nach Russland.
I.
1. Mit Auslieferungsersuchen der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vom 6. März 2019 erbaten die russischen Behörden die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung. Dem Auslieferungsersuchen liegt ein Haftbefehl des Bezirksgerichts Presnensky in Moskau vom 12. Juli 2018 zugrunde. In diesem wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, sich am 14. Mai 2016 an Massenunruhen auf einem Moskauer Friedhof beteiligt zu haben. Hierbei habe es sich um Rivalitäten zwischen Tadschiken und Russen gehandelt, von denen erstere möglicherweise illegal auf dem Friedhof gearbeitet hätten. Anlässlich einer organisierten „Aktion“ seien die Beteiligten uniformiert und mit Schuss-, Stich- und Hiebwaffen bewaffnet aufeinander losgegangen. Der Beschwerdeführer stehe im Verdacht, mit einer Handfeuerwaffe Schüsse in Richtung der Gruppe der Tadschiken abgegeben zu haben. Insgesamt seien auf Seiten der Tadschiken rund ein Dutzend Personen durch Schläge und Stiche teils schwer verletzt worden. Zwei Personen seien zu Tode gekommen, eine davon durch Schussverletzungen.
2. Am 11. Februar 2019 wurde der Beschwerdeführer von der Polizei aufgegriffen und am darauffolgenden Tag dem Amtsgericht Kiel vorgeführt. Er erklärte, er sei die gesuchte Person, machte Angaben zur Person, schwieg aber zu den Vorwürfen. Er sagte aus, ihm sei in Polen im Jahr 2007 politisches Asyl gewährt worden. Das gerichtliche Protokoll weist aus, dass er während der Anhörung eine „polnische Aufenthaltskarte“ vorgelegt habe, aus der sich der „Flüchtlingsstatus“ des Beschwerdeführers ergebe. Mit seiner Auslieferung nach Russland und mit der Anwendung des vereinfachten Verfahrens erklärte er sich nicht einverstanden. Zudem verzichtete er nicht auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes.
3. Der dem Beschwerdeführer beigeordnete Verteidiger beantragte am 13. Februar 2019 die Ermittlung der konkret zu erwartenden Haftbedingungen.
4. Auf Antrag des Generalstaatsanwalts des Landes Schleswig-Holstein ordnete das Oberlandesgericht am 15. Februar 2019 die vorläufige Auslieferungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Die Auslieferung erscheine nicht von vornherein unzulässig. Ein Haftgrund liege vor, da der Beschwerdeführer unter verschiedenen Identitäten auftrete, nach den bisherigen Erkenntnissen bereits einmal aus der Bundesrepublik Deutschland abgeschoben worden sei und auch die Behörden Belgiens gegen ihn zu ermitteln schienen. Mit milderen Mitteln als der Auslieferungshaft könne das Verfahren nicht gesichert werden.
5. Die Auslieferungsunterlagen wurden unter dem 11. März 2019 übersandt. Bereits in diesen sicherten die russischen Behörden zu, dass den Beschwerdeführer keine unmenschliche Behandlung erwarte, er im Strafverfahren sämtliche Verteidigungsmöglichkeiten nebst Zugang zu Anwälten erhalte und nicht politisch verfolgt werde. Der Spezialitätsgrundsatz werde eingehalten und der Beschwerdeführer werde in einer Haftanstalt untergebracht, die den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen und der Europäischen Menschenrechtskonvention genüge.
6. Am 13. März 2019 ordnete das Oberlandesgericht die förmliche Auslieferungshaft an. Die sich aus den nun übersandten Auslieferungsunterlagen ergebende Anlasstat sei in Deutschland jedenfalls als gefährliche Körperverletzung beziehungsweise Landfriedensbruch oder versuchter Totschlag strafbar.
7. Auf Ersuchen des Generalstaatsanwalts des Landes Schleswig-Holstein wurde der Beschwerdeführer vor dem Amtsgericht Neumünster am 29. März 2019 zu konkreten Fragen angehört. Dabei wurde er unter anderem zur Person und allgemein dazu befragt, welche Einwendungen er gegen die Auslieferung erhebe. Der Generalstaatsanwalt hatte dem Amtsgericht zuvor einen Fragenkatalog übersandt. Die kurzfristig anberaumte Anhörung fand ohne den Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers statt, der terminlich verhindert war. Der Beschwerdeführer führte ausweislich des Protokolls aus, er sei tschetschenischer „Staatsangehöriger“, verheiratet und habe eine Tochter. Eigentlich lebe er in Belgien. Er erklärte, er wolle ausdrücklich festhalten, dass er in Polen als Flüchtling anerkannt worden sei. Man habe ihm politisches Asyl gewährt, weil Polen davon ausgegangen sei, dass er in Russland politisch verfolgt werde. Daher habe er in Polen einen „blauen Reisepass“ bekommen, mit dem er reisen könne. Zu Einwendungen gegen die Auslieferung befragt, gab er an, er wolle „unter keinen Umständen nach Russland“. Dort müsse er um sein Leben fürchten. Ausweislich des Protokolls befragte das Amtsgericht den Beschwerdeführer nicht zu den Hintergründen der politischen Verfolgung; das Vernehmungsersuchen enthielt auch keinen dahingehenden Auftrag.
8. Unter dem 2. April 2019 beantragte der Generalstaatsanwalt des Landes Schleswig-Holstein, die Auslieferung für zulässig zu erklären. Die Tat, zu der der Beschwerdeführer sich nicht geäußert habe, sei auslieferungsfähig. In der ersten Vernehmung habe er noch angegeben, er habe die russische Staatsangehörigkeit. Ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung seien nicht ersichtlich. Zwar habe der Beschwerdeführer vorgetragen, er sei in Polen als Flüchtling anerkannt, nähere Angaben zu seiner politischen Verfolgung habe er aber nicht gemacht. Jedenfalls bestünden mit Blick auf die Zusicherungen der Russischen Föderation keine Bedenken.
9. Der Beschwerdeführer beantragte am 17. April 2019 durch seinen Prozessbevollmächtigten, die Auslieferung als unzulässig abzulehnen. Die Haftbedingungen in Russland seien für Bürger „tschetschenischen Ursprungs“ nicht mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang zu bringen. Mit der Anerkennung des Beschwerdeführers als Flüchtling in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) liege zudem ein Auslieferungshindernis vor. Insoweit sei der Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Im Übrigen sei die Auslieferungshaft aufzuheben.
Mit Bezug zu den Haftbedingungen in Russland führte der Beschwerdeführer unter Vorlage von Berichten aus, dass diese häufig durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und Menschenrechtsorganisationen gerügt worden und deshalb jedenfalls konkrete Angaben dazu erforderlich seien, was den Beschwerdeführer in Russland erwarte. Der EGMR habe festgestellt, dass innerstaatliche Rechtsbehelfe im Kontext des russischen Strafvollzugs nicht verlässlich seien. Gerade für tschetschenische Volkszugehörige muslimischen Glaubens wie den Beschwerdeführer bestehe zudem ein gesteigertes Risiko der Misshandlung. Eine Zusicherung sei nicht geeignet, hinreichende Haftbedingungen sicherzustellen. Die Aussagekraft der russischen Zusicherungen tendiere ohnedies gegen Null, weil schon nicht erkennbar sei, dass diese in der Vergangenheit überhaupt überprüft worden seien. Es werde angeregt, beim Auswärtigen Amt um Mitteilung zu ersuchen, wie viele Personen in den letzten fünf Jahren nach Russland ausgeliefert, wie oft Besuche durchgeführt und welche Befunde erhoben worden seien.
Zudem sei aktenkundig, dass der Beschwerdeführer über einen polnischen Aufenthaltstitel mit Gültigkeit vom 29. März 2017 bis zum 29. März 2020 verfüge. Der vorgelegte polnische Ausweis weise ihn als „Flüchtling“ aus. Im Jahr 2017 sei dieser Status zuletzt verlängert worden. Der Ausweis spreche explizit von „Flüchtlingsstatus“ („Status Uchodzcy“). Daher stehe § 6 Abs. 2 IRG der Auslieferung entgegen. Hilfsweise werde die Beiziehung der polnischen Akten beantragt. Das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus in einem Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention eine „erhebliche prozessuale Relevanz“ im Auslieferungsverfahren habe und ein „gewichtiges Indiz“ für eine gegenüber dem Betroffenen bestehende politische Verfolgung darstelle (unter Verweis auf BVerfGE 52, 391). Die Generalstaatsanwaltschaft habe die Flüchtlingsanerkennung unzureichend gewürdigt. Auch die Oberlandesgerichte entnähmen der Flüchtlingsanerkennung eines anderen EU-Mitgliedstaats jedenfalls die Vermutung einer tatsächlich bestehenden...
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