Beschluss vom 26. Februar 2008 - 1 BvR 2327/07
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2008:rk20080226.1bvr232707 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2008 - 1 BvR 2327/07 - Rn. (1-41), |
Judgement Number | 1 BvR 2327/07 |
Date | 26 Febrero 2008 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2327/07 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der K... mbH,
vertreten durch die Geschäftsführer
Ludolf-Colditz-Straße 42, 04299 Leipzig -
gegen | den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 7. August 2007 - 1 Verg 8/06 - |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Hoffmann-Riem,
Eichberger
am 26. Februar 2008 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 7. August 2007 - 1 Verg 8/06 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 20.000 € (in Worten: zwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Verwerfung einer Anhörungsrüge als unzulässig.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist eine Kapitalgesellschaft privaten Rechts und erbringt erwerbswirtschaftliche Dienstleistungen für Städte und andere kommunale Gebietskörperschaften. Im vorliegenden Zusammenhang war sie aufgrund eines mit der Stadt Magdeburg geschlossenen Entwicklungsträgervertrags beauftragt, eine Stadtentwicklungsmaßnahme einschließlich der dafür erforderlichen Vergabeverfahren durchzuführen. Dabei kam es zu einem vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren, bei dem das Oberlandesgericht Naumburg mit Beschluss vom 25. September 2006 - 1 VerG 8/06 - zum Nachteil der Beschwerdeführerin entschied.
Die Beschwerdeführerin meint, diese Entscheidung verletze sie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör. Sie legte insoweit eine Verfassungsbeschwerde ein, die jedoch vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
2. Ein Anhörungsrügeverfahren beim Oberlandesgericht führte die Beschwerdeführerin zunächst nicht durch.
Ursache hierfür war die insoweit fehlerhafte Veröffentlichung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Die einschlägigen Vorschriften der §§ 116 ff. GWB enthalten keine eigenständige Regelung zum Anhörungsrügeverfahren. Jedoch verweist § 120 Abs. 2 GWB auf eine Anzahl von Vorschriften zum Beschwerdeverfahren gegen Verfügungen der Kartellbehörde (§§ 63 ff. GWB). In seiner durch das Anhörungsrügengesetz vom 9. Dezember 2004, dort Art. 20 Nr. 3 geänderten Fassung verweist § 120 GWB auch auf § 71a GWB, der die Anhörungsrüge regelt. Diese Änderung von § 120 GWB ist im Bundesgesetzblatt Teil I vom 14. Dezember 2004, S. 3220 <3229 f.> bekannt gemacht worden.
Allerdings veröffentlichte der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit im Bundesgesetzblatt Teil I vom 20. Juli 2005, S. 2114 ff., eine „Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“. Ausweislich ihrer Präambel, dort Nr. 14, berücksichtigt diese Neubekanntmachung auch das Anhörungsrügengesetz. Jedoch fehlt in § 120 Abs. 2 dieser Neubekanntmachung die Verweisung auf § 71a GWB. Dieser Fehler hatte zur Folge, dass in den verbreiteten Gesetzestexten und auch in der Kommentarliteratur die Verweisung des § 120 GWB auf die Vorschrift über die Anhörungsrüge nicht enthalten ist.
3. Im November 2006 erkannte die Beschwerdeführerin den Bekanntmachungsfehler, legte beim Oberlandesgericht Naumburg die Anhörungsrüge ein und beantragte gleichzeitig wegen der Versäumung der Anhörungsrügefrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Oberlandesgericht Naumburg wies mit Beschluss vom 7. August 2007 den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin als unzulässig.
Zur Begründung führt es aus, zwar sei richtig, dass § 120 Abs. 2 GWB im Bundesgesetzblatt fehlerhaft veröffentlicht sei und daher keinen Verweis auf die Vorschriften über die Anhörungsrüge enthalte. Allerdings sei anerkannt, dass § 120 Abs. 2 GWB ohnehin keine abschließende Regelung darstelle und seine Lücken im Wege der Analogie zu anderen Vorschriften, in der Regel denen der Zivilprozessordnung, geschlossen werden müssten. Daher hätte die Beschwerdeführerin angesichts der veröffentlichten Fassung von § 120 GWB die Rechtslage für unklar halten und die analoge Anwendung von § 71a GWB oder § 321a ZPO in Betracht ziehen müssen. Vorsorglich hätte sie daher parallel zur durchgeführten Verfassungsbeschwerde auch den Rechtsbehelf der Anhörungsrüge innerhalb der mit Zustellung des Beschlusses vom 25. September 2006 beginnenden zweiwöchigen Frist einlegen müssen.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Verfassungsbeschwerde. Sie rügt die Verletzung des Willkürverbots bei der Beurteilung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen. Das Oberlandesgericht habe verkannt, dass die Versäumung der Anhörungsrügefrist unverschuldet gewesen sei und damit die Rechtsschutzmöglichkeiten der Beschwerdeführerin in Bezug auf ihre Verfahrensgrundrechte über Gebühr verkürzt worden seien. Es sei sachfremd, hier davon auszugehen, dass die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist auf einem vermeidbaren Rechtsirrtum beruhe. Das Oberlandesgericht gehe von einer – gemessen an der objektiven Rechtslage – nicht bestehenden Regelungslücke und damit von Voraussetzungen aus, die tatsächlich nicht vorlägen. Schon deshalb komme die vom Oberlandesgericht für nahe liegend gehaltene analoge Anwendung der Vorschriften über die Anhörungsrüge nicht in Betracht. Richtigerweise sei ihr, der Beschwerdeführerin, selbst unter Zugrundelegung der fehlerhaft veröffentlichten Gesetzesfassung die Einlegung einer Anhörungsrüge nicht zuzumuten gewesen. Dies ergebe sich bereits daraus, dass nach der Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 107, 395) ungeschriebene außerordentliche Rechtsbehelfe den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht genügten. Es könne daher nicht verlangt werden, von einem solchen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.
II.
Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Landesregierung des Landes Sachsen-Anhalt und der Präsident des Bundesgerichtshofs Stellung genommen.
III.
Die Kammer nimmt die...
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