Beschluss vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 1846/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20221027.1bvr184622 |
Date | 27 Octubre 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 1846/22 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Oktober 2022 - 1 BvR 1846/22 -, Rn. 1-31, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1846/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der (…) vertreten durch (…), |
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 18. August 2022 - 27 O 340/22 - |
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Harbarth
und die Richterinnen Ott,
Härtel
am 27. Oktober 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 18. August 2022 - 27 O 340/22 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.
- Die Stadt Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
I.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen eine durch das Landgericht Berlin erlassene einstweilige Verfügung, mit der der Beschwerdeführerin die Wort- und Bildberichterstattung über einen Vorfall mit vermeintlich islamistischem Hintergrund auf dem Vorfeld des (…) Flughafens untersagt wurde.
1. Die Beschwerdeführerin verlegt die deutschlandweit erscheinende Tageszeitung (…)-Zeitung, deren Internetseite www.(...).de sie ebenso verantwortet wie deren Kanäle auf Instagram, Twitter und YouTube. In allen fünf Medien berichtete die Beschwerdeführerin am 22. Juli 2022 in Wort und Bild über einen Vorfall auf dem Vorfeld des (…) Flughafens, bei dem drei Mitarbeiter der Gepäckabfertigung – darunter die beiden Antragsteller des Ausgangsverfahrens – dabei fotografiert wurden, wie sie, in Richtung eines mit Passagieren besetzten Flugzeugs blickend, nebeneinanderstehend jeweils mit einem etwa auf Kopfhöhe neben sich gehaltenen Zeigefinger himmelwärts zeigten.
a) Ihren etwa eine dreiviertel Seite füllenden Beitrag in der Ausgabe „(…)“ der von ihr verlegten (…)-Zeitung kündigte die Beschwerdeführerin auf der Titelseite mit der Schlagzeile „Direkt an den URLAUBSFLIEGERN in (…)“, „ISLAMISTEN arbeiten am Flughafen!“ an, begleitet von einem eine dritte Person zeigenden Ausschnitt des Fotos und dem Begleittext „Einer der drei Gepäckträger zeigt auf dem Rollfeld den ISIS-Gruß“. In dem auf der dritten Seite der Ausgabe abgedruckten Beitrag füllte sodann das im Bereich der Gesichter mit Augenbalken versehene Foto etwa ein Drittel der Seite, das den links oben angeordneten Begleittext „Mit ISIS-Finger auf dem Rollfeld des Flughafens (…): die drei islamistischen Gefährder“ enthielt. Unter dem Übertitel „Wegen ISIS-Gruß: Bundespolizei sperrt Kofferträger am (…) Flughafen“ und dem Haupttitel „ISLAMISTEN-ALARM auf dem Rollfeld“ berichtete die Beschwerdeführerin darüber, dass drei Mitarbeiter „den ISIS-Zeigefinger zum Himmel“ gereckt und „ihre Sympathie mit islamistischen Terroristen“ bekannt hätten, wobei sie mitteilte, dass es sich um die deutschen Staatsangehörigen (…) (19), (…) (20) und (…) (20) handele und diese „ihren Job am Flughafen los“ seien. Einen Sprecher des Polizeipräsidiums (…) zitierte die Beschwerdeführerin mit dem Satz „Wir haben mit zwei Personen Gefährderansprachen durchgeführt.“, einen Politiker mit der Äußerung „Ein sicherheitspolitischer Skandal!“, es müsse „unverzüglich Konsequenzen“ geben. Unter der Abbildung einer bis auf ihre Augen verhüllten Person, die in vergleichbarer Weise mit seitlich vom Körper nach oben abgewinkeltem Arm ihren Zeigefinger himmelwärts richtet, druckte die Beschwerdeführerin die Überschrift „Das ist der ISIS-Gruß“ ab, gefolgt von der Erläuterung „Der nach oben gestreckte Zeigefinger („Tauhid“) ist der Gruß der ISIS-Terroristen. Er leitet sich aus dem Islam ab. Zeigefinger nach oben bedeutet: Es gibt keinen Gott außer Allah.“.
b) Ihren Bericht veröffentlichte die Beschwerdeführerin in nahezu identischer Weise im Regionalteil (…) ihrer Internetseite www.(...).de. Anders als in den übrigen Medien veröffentlichte sie dort zudem am 23. Juli 2022 einen weiteren Beitrag mit dem Übertitel „NACH BILD-BERICHT ÜBER ISIS-SYMBOLE“ und dem Haupttitel „Kriminelle haben am Sicherheitscheck nichts verloren“, in dem sie über „Große Aufregung nach dem (…)-Bericht über mutmaßliche Islamisten auf dem Rollfeld des (…) Flughafens“ berichtete und zwei Politiker, einen Polizei-Gewerkschafter und einen Sprecher des (…) Flughafens zu Wort kommen ließ.
c) Ebenfalls veröffentlichte die Beschwerdeführerin das Foto am 22. Juli 2022, hier ohne Verwendung von Augenbalken, mit dem Übertitel „ISIS-Gruß mitten auf dem Rollfeld“, dem Haupttitel „Islamisten-Alarm am (…) Flughafen“ und einer Verlinkung „ZUM ARTIKEL“ auf Instagram sowie in vergleichbarer Weise auf ihren Kanälen bei Twitter sowie, hier ferner ein Video einstellend, bei YouTube.
2. Am 3. August 2022 forderte zunächst der Antragsteller zu 1), am 5. August 2022 auch der Antragsteller zu 2) die Beschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Berichterstattung vom 22. Juli 2022 in der (…)-Zeitung, auf ihrer Internetseite www.(...).de und in ihren Kanälen auf Instagram und Twitter anwaltlich zur Abgabe strafbewehrter Unterlassungserklärungen bis spätestens 8. August 2022, 18 Uhr, auf. Für den Fall des fruchtlosen Fristablaufs kündigten sie an, ohne weitere Ankündigung gerichtliche Schritte einzuleiten. Ihre Abmahnungen begründeten die Antragsteller damit, dass sie keine Islamisten seien. Die Gesten seien aus einem Spaß heraus entstanden. Weder hätten sie sich als Islamisten „outen“ wollen, noch hegten sie ansonsten irgendeine Nähe zu Islamisten. Bei der Geste handele es sich um das sogenannte Tauhid-Zeichen, das von Muslimen, wie auch Beispiele aus dem Sport zeigten, als Zeichen des Glaubens und der Einheit und zu 99,9 % friedlich verwendet werde, nicht aber als Zeichen für Sympathie mit dem IS. Sie seien zudem keine Gefährder und am Flughafen weiter beschäftigt. Hierauf Bezug nehmend, begründeten die Antragsteller in gleicher Weise auch ihre Abmahnungen hinsichtlich des auf YouTube eingestellten Videos durch anwaltliche Schreiben vom 11. August 2022 unter jeweiliger Fristsetzung bis 15. August 2022, sowie hinsichtlich des auf der Internetseite www.(...).de am 23. Juli 2022 veröffentlichten Beitrags durch anwaltliche Schreiben vom 12. August 2022, ebenfalls unter Fristsetzung bis 15. August 2022.
3. Die Beschwerdeführerin äußerte sich zu sämtlichen Schreiben nicht, woraufhin die Antragsteller am 17. August 2022 beim Landgericht Berlin den Erlass einer mit den zuvor begehrten Unterlassungserklärungen inhaltlich übereinstimmenden einstweiligen Verfügung beantragten und dabei mit Rücksicht auf bevorstehende Urlaube ab dem 27. August 2022 dringlichst um schnellstmögliche Entscheidung baten. In ihrer Begründung beschränkten sie sich gegenüber ihren außergerichtlichen Aufforderungen darauf, dass sie sich gegen unwahre und hochgradig ehrverletzende Tatsachenbehauptungen wehrten. Die in den Berichterstattungen veröffentlichten Vorwürfe entsprächen nicht der Wahrheit. Am 22. Juli 2022 seien in der Google-Suche allein bei Eingabe der Suchworte „Flughafen (…)“ Dutzende weitere Berichte anderer Medien erschienen, welche die in höchstem Maße vorverurteilenden Anschuldigungen der Beschwerdeführerin übernommen hätten. Eine Gelegenheit zur Stellungnahme vor Veröffentlichung der Artikel...
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