Beschluss vom 29. Juli 2010 - 1 BvR 1634/04
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20100729.1bvr163404 |
Judgement Number | 1 BvR 1634/04 |
Date | 29 Julio 2010 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1634/04 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Z…
in Sozietät Leyrer & Hoppe-Willmann,
Hafengasse 3, 72070 Tübingen -
gegen a) | den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2004 - 11 LA 79/04 -, |
b) | das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 23. Januar 2004 - 3 A 120/02 - |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Eichberger,
Masing
am 29. Juli 2010 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 23. Januar 2004 - 3 A 120/02 - und der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2004 - 11 LA 79/04 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung an das Verwaltungsgericht Lüneburg zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 Euro festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, in denen dem Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers gegen die Auferlegung von Gebühren für eine polizeiliche Ingewahrsamnahme im Anschluss an eine Versammlung mit der Begründung der Erfolg versagt wird, die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der dem Heranziehungsbescheid zugrunde liegenden polizeilichen Ingewahrsamnahme sei den Verwaltungsgerichten verwehrt.
I.
1. Dem Ausgangsverfahren liegen folgende Vorschriften des einfachen Rechts zugrunde:
a) Aus dem Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz in der Fassung vom 20. Februar 1998 (GVBl vom 4. März 1998, S. 101 - NGefAG a.F.):
§ 17 NGefAG a.F.
(Platzverweisung)
(1) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können zur Abwehr einer Gefahr jede Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten.
...
§ 18 NdsGefAG a.F.
(Gewahrsam)
(1) Die Verwaltungsbehörden und die Polizei können eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies
...
2. unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung
...
b) einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit
zu verhindern, oder
3. unerlässlich ist, um eine Platzverweisung nach § 17 durchzusetzen.
…
§ 19 NGefAG a.F.
(Richterliche Entscheidung)
(1) Wird eine Person auf Grund des § 13 Abs. 2 Satz 2, des § 16 Abs. 3 oder des § 18 festgehalten, so haben die Verwaltungsbehörden oder die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsbeschränkung herbeizuführen. Der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung bedarf es nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen wird.
(2) Ist die Freiheitsbeschränkung vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung beendet, so kann die festgehaltene Person ... innerhalb eines Monats nach Beendigung der Freiheitsbeschränkung die Feststellung beantragen, dass die Freiheitsbeschränkung rechtswidrig gewesen ist, wenn diese länger als acht Stunden angedauert hat oder für die Feststellung ein sonstiges berechtigtes Interesse besteht. Der Antrag kann bei dem nach Absatz 3 Satz 2 zuständigen Amtsgericht schriftlich oder durch Erklärung zu Protokoll der Geschäftstelle dieses Gerichts gestellt werden. Die Entscheidung des Amtsgerichts ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar. Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist die weitere sofortige Beschwerde nur statthaft, wenn das Landgericht sie wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage zulässt.
(3) Für die Entscheidung nach Absatz 1 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person festgehalten wird. Für die Entscheidung nach Absatz 2 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person in Gewahrsam genommen wurde.
…
b) Aus dem Niedersächsischen Verwaltungskostengesetz (GVBl vom 7. Mai 1962, S. 43 ff., geändert durch Art. 5 des Haushaltsbegleitgesetzes 1997 vom 13. Dezember 1996, GVBl vom 20. Dezember 1996, S. 494, in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der kommunalen Handlungsfähigkeit, GVBl vom 28. Mai 1996, S. 242 - NVwKostG):
§ 3
(1) Die einzelnen Amtshandlungen, für die Gebühren erhoben werden sollen, und die Höhe der Gebühren sind in Gebührenordnungen zu bestimmen.
…
§ 11
(1) Kosten, die dadurch entstanden sind, dass die Behörde die Sache unrichtig behandelt hat, sind zu erlassen.
…
§ 14
(1) Für die Benutzung öffentlicher Einrichtungen und Gegenstände, die sich im Eigentum oder in der Verwaltung des Landes befinden, können Benutzungsgebühren erhoben werden.
…
(2) Im übrigen finden die Vorschriften dieses Gesetzes über Kosten entsprechende Anwendung.
c) § 1 der Verordnung über die Gebühren und Auslagen für Amtshandlungen und Leistungen vom 5. Juni 1997 (GVBl vom 12. Juni 1997, S. 171 - Allgemeine Gebührenordnung) bestimmt:
§ 1
(1) Für Amtshandlungen der Landesverwaltung ... sind Gebühren und Pauschbeträge für Auslagen nach dieser Verordnung und dem nachstehenden Kostentarif (Anlage) zu erheben.
…
Nrn. 67.1 und 67.2 der Anlage zu der Allgemeinen Gebührenordnung lauten (GVBl vom 12. Juni 1997, S. 172 ):
- Unterbringung im Polizeigewahrsam je angefangener Tag (24 Stunden) 38 DM
- Beförderung von in Gewahrsam genommenen oder hilflosen Personen mit Polizeifahrzeugen 70 DM
2. Am 3./4. März 2001 fand im Landkreis Lüchow-Dannenberg an einem Bahnübergang in Pisselberg die Versammlung unter dem Motto „Nacht im Gleisbett“ gegen den Transport von Atommüll in das Brennelemente-Zwischenlager Gorleben (Castor-Transport) statt. Die Versammlung wurde am Abend des 3. März 2001 wegen der Gefahr eines Verstoßes gegen das Betretungsverbot der Gleise gemäß §§ 62, 63 der Eisenbahn-, Bau- und Betriebsordnung aufgelöst, als sich ein Teil der Demonstranten den Gleisen näherte. In der Folge versuchten mehrere Gruppen von Demonstranten einige hundert Meter von dem Bahnübergang entfernt, die Gleise zu besetzen. Sie wurden mit einem Platzverweis belegt, in Gewahrsam genommen und für eine Identitätsfeststellung zur Polizeiinspektion in Lüchow gebracht. Im Verlauf dieser Geschehnisse wurde auch der Beschwerdeführer nach dem polizeilichen Kurzbericht um 21:40 Uhr in Gewahrsam genommen, gegen 23:55 Uhr mit einem Dienstfahrzeug nach Lüchow transportiert und um 2:34 Uhr des Folgetages wieder entlassen. Eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der polizeilichen Maßnahmen wurde nicht herbeigeführt.
3. Mit Heranziehungsbescheid vom 4. September 2001 wurden dem Beschwerdeführer gegenüber gemäß §§ 3 Abs. 1, 14 NVwKostG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 AllGO in Verbindung mit Nrn. 67.1. und 67.2. der Anlage zu der Allgemeinen Gebührenordnung Kosten für die Unterbringung in Gewahrsam und die Beförderung in Höhe von insgesamt 108 DM festgesetzt.
4. Mit angegriffenem Urteil vom 23. Januar 2004 wies das Verwaltungsgericht die Klage des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Heranziehungsbescheides ab. Das Verwaltungsgericht sei nicht zuständig, die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme inzident als Vorfrage im Rahmen der Prüfung des Heranziehungsbescheides zu prüfen. Der Gesetzgeber habe sich wegen der Sach- und Ortsnähe der Amtsgerichte für eine abdrängende Sonderzuweisung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO an die ordentlichen Gerichte entschieden. Mache der Beschwerdeführer von diesen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten keinen Gebrauch, liege das in seinem Risikobereich, mit der Folge, dass er wegen der umfassenden Rechtsschutzkonzentration auf die ordentliche...
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