Beschluss vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2003:up20030430.1pbvu000102 |
Date | 30 Abril 2003 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Plenums vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02 - Rn. (1-69), |
Judgement Number | 1 PBvU 1/02 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s a t z
zum Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts
vom 30. April 2003
- 1 PBvU 1/02 -
Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 PBvU 1/02 -
über
die Vorlage des Ersten Senats
vom 16. Januar 2002 - 1 BvR 10/99 -
hat das Plenum des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Papier als Vorsitzender,
Vizepräsident Hassemer,
Sommer,
Jaeger,
Haas,
Hömig,
Steiner,
Jentsch,
Broß,
Osterloh,
Hohmann-Dennhardt,
Hoffmann-Riem,
Di Fabio,
Bryde,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff
am 30. April 2003 beschlossen:
Es verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsieht, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
Gegenstand des Plenarverfahrens ist die Frage, ob und in welchem Umfang es das Grundgesetz erfordert, dass Verstöße eines Richters gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) durch die Fachgerichte selbst behoben werden können.
I.
Ausgangspunkt des Plenarverfahrens ist eine beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts anhängige Verfassungsbeschwerde (1 BvR 10/99). Ihr liegt ein Berufungsurteil zu Grunde, durch das nach Auffassung des Ersten Senats der Anspruch der Beschwerdeführer auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt wird. Der Bundesgerichtshof hat die von den Beschwerdeführern gegen das Urteil des Oberlandesgerichts eingelegte Revision als unzulässig verworfen, weil das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen habe und die Revisionssumme nicht erreicht sei. Auch als außerordentliches Rechtsmittel wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit sei die Revision nicht zulässig (BGH, NJW 1999, S. 290). Gegen beide Entscheidungen richtet sich die Verfassungsbeschwerde.
II.
1. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts möchte nicht nur die Entscheidung des Oberlandesgerichts wegen Verletzung rechtlichen Gehörs aufheben, sondern der Verfassungsbeschwerde auch stattgeben, soweit sie sich gegen den Beschluss des Bundesgerichtshofs richtet. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs beruht auf den §§ 545 bis 547 der Zivilprozessordnung in der bis zum 31. Dezember 2001 gültig gewesenen Fassung und auf der Verneinung der Zulässigkeit eines außerordentlichen Rechtsbehelfs. Die Beschwerdeführer hatten keine Möglichkeit, die von ihnen behauptete Verletzung ihrer Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG vor den Fachgerichten geltend zu machen. Das Fehlen einer gesetzlichen Rechtsschutzmöglichkeit verletzt nach Auffassung des Ersten Senats den im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten verankerten Justizgewährungsanspruch.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Frage fehlender Rechtsbehelfe bei einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG verschiedentlich befasst. Es hat zum Teil die Möglichkeit des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde als rechtsstaatlich hinreichend angesehen, wenn nach der jeweiligen Verfahrensordnung ein Rechtsmittel gegen die ergangene Entscheidung nicht vorgesehen ist (vgl. BVerfGE 60, 96 <98 f.>). In anderen Fällen hat es die Möglichkeit von Rechtsbehelfen bejaht, die nicht ausdrücklich in den Prozessordnungen geregelt sind (Überblick bei Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 22. Aufl., 2001, Einl. Rn. 103). Dabei geht das Bundesverfassungsgericht von dem Grundsatz aus, dass Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte tunlichst im Instanzenzug durch Selbstkontrolle der Fachgerichte behoben werden sollen (vgl. BVerfGE 47, 182 <190 f.>; 73, 322 <327 ff.>; stRspr). In vielen Fällen ist insbesondere die Zulassung von Gegenvorstellungen gebilligt worden (vgl. BVerfGE 9, 89 <101, 106 f.>; 73, 322 <326 ff., 329>). Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht neue Rechtsbehelfsmöglichkeiten durch analoge Anwendung oder extensive Auslegung der Prozessrechtsnormen (so § 513 Abs. 2, § 568 Abs. 2 ZPO a.F., §§ 33 a, 313 a StPO) für nahe liegend erachtet (vgl. statt vieler BVerfGE 42, 243 <250 f.>; 49, 252 <256>; 60, 96 <98 f.>; 70, 180 <187 ff.>). Die Fachgerichte sind dem im Wesentlichen gefolgt und haben ihrerseits versucht, neuartige Rechtsbehelfe zu ermöglichen, etwa der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit der Entwicklung der Rechtsfigur der "greifbaren Gesetzwidrigkeit" (vgl. etwa BGHZ 119, 372 <374>; 121, 397 <398 f.>; 130, 97 <99>).
Inzwischen hat der Bundesgerichtshof unter Verweis auf die Neuregelung des Beschwerderechts durch das Zivilprozessreformgesetz vom 27. Juli 2001 entschieden, dass es ein außerordentliches Rechtsmittel zum Bundesgerichtshof auch dann nicht gebe, wenn die Entscheidung des Beschwerdegerichts greifbar gesetzwidrig sei, insbesondere ein Verfahrensgrundrecht des Beschwerdeführers verletze. In einem solchen Fall sei die angefochtene Entscheidung durch das Gericht, das sie erlassen hat, auf Gegenvorstellung hin zu korrigieren (vgl. BGHZ 150, 133). Das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Auffassung gefolgt und hat entschieden, dass die gesetzliche Aufzählung der Zuständigkeiten des Bundesverwaltungsgerichts und die Regelung des Beschwerderechts künftig eine Befassung mit außerordentlichen Beschwerden nicht mehr zuließen (vgl. BVerwG, NJW 2002, S. 2657).
b) Nach Auffassung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts fordert das Grundgesetz bei entscheidungserheblichen Verstößen eines Gerichts gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör eine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit. Das Risiko eines unendlichen Rechtswegs sei nicht gegeben, wenn das Gebot effektiven Rechtsschutzes dahingehend verstanden und darauf begrenzt werde, dass der Rechtsweg nur für die einmalige Möglichkeit der Kontrolle eines Rechtsfehlers eröffnet ist. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, entsprechende Rechtsbehelfe in die Systematik der geschriebenen Prozessordnungen einzufügen. Der Erste Senat lehnt es mit Rücksicht auf das Rechtsstaatsprinzip ab, seinerseits Erweiterungen des ungeschriebenen Rechtsmittelrechts unmittelbar aus der Verfassung abzuleiten.
2. Der Sache nach will der Erste Senat die Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Grundgesetz keinen Rechtsschutz gegen den Richter gewährleistet (vgl. BVerfGE 11, 263 <265>; 65, 76 <90>; 76, 93 <98>; stRspr), insoweit aufgeben, als es sich um entscheidungserhebliche Verstöße des Richters gegen das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG handelt. Der Erste Senat hat deshalb gemäß § 48 Abs. 2 GOBVerfG beim Zweiten Senat angefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung (vgl. BVerfGE 11, 263 <265>; 42, 243 <248>; 49, 329 <340 f.>) festhalte. Dies ist ausweislich des Beschlusses des Zweiten Senats vom 7. November 2001 der Fall. Der Zweite Senat bewertet das Fehlen einer fachgerichtlichen Abhilfemöglichkeit bei entscheidungserheblichen Verstößen gegen das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG nicht als verfassungswidrig. Daraufhin hat der Erste Senat durch Beschluss vom 16. Januar 2002 gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG das Plenum des Bundesverfassungsgerichts angerufen (BVerfGE 104, 357).
Zu dem Vorlagebeschluss des Ersten Senats haben sich das Bundesministerium der Justiz namens der Bundesregierung, der Präsident des Bundesgerichtshofs, die Präsidentin des Bundesfinanzhofs, der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts sowie die Hessische Staatskanzlei geäußert. Ein verfassungsrechtliches Gebot, bei Gehörsversagungen generell ein Rechtsmittel an ein Gericht höherer Instanz (iudex ad quem) vorzusehen, wird in keiner Stellungnahme bejaht. Demgegenüber wird eine Pflicht der Gerichte zur "Selbstkorrektur" (iudex a quo) ganz überwiegend befürwortet; dabei werden vielfach die insoweit bereits bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten etwa in Gestalt einer Gegenvorstellung als ausreichend angesehen.
I.
Nach der Ansicht des Bundesministeriums der Justiz gewährleisten die derzeitigen fachgerichtlichen Verfahrensordnungen insbesondere nach der Zivilprozessreform einen nahezu lückenlosen Schutz gegen Verletzungen des rechtlichen Gehörs. Verbleibende Lücken würden in zunehmendem Maße durch die Rechtsprechung der Fachgerichte selbst geschlossen. So lege es die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 7. März 2002 (BGHZ 150, 133) nahe, die Regelungen des Abhilfeverfahrens des § 321 a ZPO n.F. bei allen mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht anfechtbaren Entscheidungen entsprechend, gegebenenfalls über § 555 Abs. 1 Satz 1, § 525 Satz 1 ZPO n.F., anzuwenden.
II.
In den vom Präsidenten des Bundesgerichtshofs übersandten Stellungnahmen verschiedener Zivilsenate wird einheitlich die Auffassung vertreten, dass allein die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs ein (außerordentliches) Rechtsmittel nicht eröffnen könne. Soweit auch nach neuem Recht ein Rechtsmittel gegen Gehörsverstöße nicht vorgesehen sei, biete sich eine Abhilfemöglichkeit für den iudex a quo in Analogie zu den §§ 321 a, 572 ZPO oder durch eine Gegenvorstellung an.
In den Stellungnahmen verschiedener Senate des Bundesfinanzhofs wird zunächst darauf hingewiesen, dass im finanzgerichtlichen Verfahren die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gegeben sei, mit der ein Verfahrensmangel geltend gemacht werden könne (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Soweit darüber hinaus ein Bedürfnis für eine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit bei Gehörsversagungen bestehe, sei dem durch eine Gegenvorstellung zum iudex a quo Rechnung zu tragen.
In den Äußerungen der Senate des...
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