Beschluss vom 30. Januar 2020 - 2 BvR 1005/18
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200130.2bvr100518 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2020 - 2 BvR 1005/18 -, Rn. (1-50), |
Date | 30 Enero 2020 |
Judgement Number | 2 BvR 1005/18 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1005/18 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau K..., |
- Bevollmächtigte:
- … -
gegen |
a) den Beschluss des Kammergerichts vom 16. April 2018 - 20 U 160/16 -, |
|
b) das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. November 2016 - 6 O 66/16 - |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 30. Januar 2020 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Kammergerichts vom 16. April 2018 - 20 U 160/16 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes
- Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Zutritts- und Durchgangsrecht der Beschwerdeführerin mit ihrem Blindenführhund durch Praxisräume einer Orthopädischen Gemeinschaftspraxis.
I.
1. Die Beschwerdeführerin befand sich bis zum 29. September 2014 in Behandlung in einer Physiotherapiepraxis. Diese Praxis befindet sich im selben Gebäude wie die im Ausgangsverfahren beklagte Orthopädische Gemeinschaftspraxis. Die Physiotherapiepraxis ist über zwei Wege zu erreichen, zum einen ebenerdig durch die Räumlichkeiten der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis und zum anderen über den Hof über eine offene Stahlgittertreppe. Vor dem Eingang des Gebäudes befindet sich ein Schild, das die beiden Wege in die Physiotherapiepraxis ausweist. Innerhalb der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis führt ein Weg durch das Wartezimmer zu einer Notausgangstür, auf der ein Schild mit der Beschriftung „Physiotherapie“ angebracht ist. Die Beschwerdeführerin hatte diesen Durchgang durch deren Räumlichkeiten bereits mehrfach mit ihrer Blindenführhündin genutzt.
2. Am 8. September 2014 untersagten die Ärzte der Orthopädischen Gemeinschaftspraxis der Beschwerdeführerin, die Praxisräume mit ihrem Blindenführhund zu betreten. Sie forderten sie auf, den Weg über den Hof und die Treppe zu nehmen. Als die Beschwerdeführerin am 29. September 2014 erneut die Praxisräume durchqueren wollte, verweigerten sie ihr den Durchgang.
3. Die Beschwerdeführerin beantragte vor dem Landgericht Berlin, die Ärzte der Gemeinschaftspraxis zu verurteilen, den Durch- und Zugang der Beschwerdeführerin zusammen mit ihrer Blindenführhündin zu der Physiotherapiepraxis durch die Praxis-Räumlichkeiten der Gemeinschaftspraxis, beschränkt auf die jeweiligen Öffnungszeiten beider Praxen, zu dulden. Sie trug vor, ihre Führhündin könne die Stahlgittertreppe nicht nutzen. Die Hündin scheue die Treppe, weil sie sich mit ihren Krallen im Gitter verfangen und verletzt habe. Der Durchgang durch die Orthopädiepraxis stehe den Patienten der Physiotherapiepraxis offen, auch sei die Praxis ungehindert für Nichtpatienten zugänglich.
Der Führhund sei ein gesetzlich anerkanntes Hilfsmittel. Ein Assistenzhund diene der Erfüllung elementarer Grundbedürfnisse wie dem Recht auf selbstbestimmte Lebensführung und gesellschaftliche Teilhabe. Werde ein für „gewöhnliche“ Hunde geltendes Zutrittsverbot auch auf Assistenzhunde erstreckt, so stelle dies eine rechtswidrige mittelbare Diskriminierung nach § 3 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) dar. Hygienische Bedenken reichten grundsätzlich nicht zur Rechtfertigung eines solchen Verbots aus. Auf der Website der Deutschen Krankenhausgesellschaft werde das Robert Koch-Institut (RKI) am 8. Februar 2012 wie folgt zitiert:
„Dem RKI sind in den letzten 16 Jahren niemals Berichte übermittelt oder sonst bekannt geworden, wonach Blindenführ- oder andere Therapiehunde in Krankenhäusern auf Rehabilitanden oder Personal Krankheitserreger übertragen haben. Abschließend weist das RKI darauf hin, dass Übertragungen von Krankheitserregern vom Hund auf den Menschen zwar denkbar seien, es sich in Deutschland jedoch um ein theoretisches Risiko handelt, das im Rahmen der Wahrnehmung von Rechten und den Bedürfnissen behinderter Menschen, normiert in § 10 SGB I, durch geeignete betriebsinterne Vorgaben [...] beherrschbar ist.“
4. Die Ärzte der Gemeinschaftspraxis beantragten, die Klage abzuweisen. Sie würden nur Patienten, deren Begleitpersonen sowie ihren Mitarbeitern und Lieferanten den Zutritt gestatten. In Einzelfällen sei eigenen Patienten die Durchquerung zur Physiotherapiepraxis erlaubt worden.
5. Mit angegriffenem Urteil vom 7. November 2016 wies das Landgericht Berlin die Klage ab. Die zulässige Klage sei unbegründet. Es bestünden weder vertragliche Ansprüche noch solche aus den §§ 21, 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG.
6. Auf die Berufung der Beschwerdeführerin gegen dieses Urteil erklärte das Kammergericht mit Hinweisbeschluss vom 12. Februar 2018 die Absicht, die Berufung zurückzuweisen, weil sie offensichtlich unbegründet sei. Die zulässige Berufung zeige weder Rechtsfehler des angegriffenen Urteils auf, noch rechtfertigten die zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung.
Der geltend gemachte Duldungsanspruch stehe der Beschwerdeführerin nicht zu. Zwar könne sich eine Duldungspflicht aus § 19 Abs. 1 Nr. 1 2. Alternative, § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG herleiten lassen. Dieser Anspruch greife aber im Ergebnis nicht durch.
Der Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbots des § 19 AGG dürfe grundsätzlich eröffnet sein. Die Beschwerdeführerin habe ihre Behandlung in der Physiotherapiepraxis entgegen ihrem Wunsch bisher nicht wiederaufgenommen, weil ihr der Zugang zu der Orthopädiepraxis versagt werde, wenn sie ihre Hündin mitnehme. Diese Einschränkung der Zugangsmöglichkeit zu der Praxis stelle eine Erschwernis hinsichtlich der Wiederaufnahme ihrer physiotherapeutischen Behandlung und damit eine Benachteiligung im Sinne des § 19 AGG dar. Die ihr jedenfalls erschwerte Wiederaufnahme betreffe einen einem „Massengeschäft“ im Sinne des § 19 Abs. 1 Nr. 1 2. Alternative AGG ähnlichen Vertrag. Eine physiotherapeutische Behandlung werde, im Rahmen der Kapazitäten, grundsätzlich jedem Patienten ohne individuelle, vielfältige Kriterien berücksichtigende Auswahl zur Verfügung gestellt.
Die in der Untersagung ihres Durchgangs durch die Praxisräume in Begleitung ihrer Blindenführhündin liegende Benachteiligung der Beschwerdeführerin sei jedoch nicht von § 19 Abs. 1 AGG erfasst, weil es sich weder um eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 1 AGG noch um eine mittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 2 AGG handele. Selbst wenn die Ärzte der Gemeinschaftspraxis Patienten der Physiotherapiepraxis generell den Durchgang durch ihre Praxisräume gewährten, stehe der Beschwerdeführerin der Duldungsanspruch nicht zu. Eine unmittelbare Benachteiligung gemäß § 3 Abs. 1 AGG scheide aus, weil die Beschwerdeführerin selbst nicht daran gehindert werde, die Praxisräume zu durchqueren, sondern sich wegen des Verbots der Mitführung ihrer Führhündin daran gehindert sehe. Für das Verbot seien „hygienische Gründe“ angegeben worden, die mit der Behinderung der Beschwerdeführerin nichts zu tun hätten und auch nicht „vorgeschoben“ seien.
Eine mittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 2 AGG liege ebenfalls nicht vor. Sie sei dadurch gekennzeichnet, dass eine unterschiedliche Behandlung nicht aufgrund eines Merkmals gemäß § 1 AGG, beispielsweise wegen einer Behinderung, sondern als rein tatsächliche Folge der aus anderen Gründen getroffenen Entscheidung eintrete, ohne dass es einer Diskriminierungsabsicht bedürfe, es sei denn, die die Benachteiligung auslösenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren seien durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
Gemessen an diesen Kriterien sei ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot nicht feststellbar. Die Beschwerdeführerin werde – die Richtigkeit ihres Vortrags unterstellt – benachteiligt, weil sie sich im Gegensatz zu anderen Patienten der Physiotherapiepraxis an der Durchquerung der Praxisräume der Beklagten dadurch gehindert sehe, dass ihr untersagt worden sei, die Praxis mit ihrer Führhündin zu betreten, die sie für ihre Mobilität benötige. Grund für die unterschiedliche Behandlung sei also nicht ihre Blindheit, sondern die Vorgabe der Ärzte, sie dürfe ihren Hund nicht in die Praxis bringen. Diese Vorgabe sei sachlich gerechtfertigt im Sinne des § 3 Abs. 2 2. Halbsatz AGG. Dem Durchgangsverbot lägen „hygienische Gründe“ zugrunde. Die Wahrung einer möglichst umfassenden Hygiene in einer Arztpraxis entspreche einem berechtigten Ziel der Inhaber dieser Praxis. Diese Hygiene diene nicht nur der Vermeidung von Infektionen, sondern darüber hinaus dem wirtschaftlichen Interesse der beklagten Ärzte, dass die Praxis bei den Patienten einen möglichst sauberen, ja „sterilen“ Eindruck erwecke, der deren Vertrauen in einen einwandfreien Praxisbetrieb stärke.
Die Untersagung, die Praxis unter Mitführung des Hundes zu durchqueren, sei eine Maßnahme, die zur Erreichung des Ziels geeignet, erforderlich und angemessen, mithin verhältnismäßig sei. Die Geeignetheit stehe außer Frage. Die Erforderlichkeit sei zu bejahen,...
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