Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2013:rs20130319.2bvr262810 |
Date | 19 Marzo 2013 |
Judgement Number | 2 BvR 2628/10 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 - Rn. (1-132), |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
zum Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013
- 2 BvR 2628/10 -
- 2 BvR 2883/10 -
- 2 BvR 2155/11 -
- Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es aus, die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen
- Verständigungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten über Stand und Aussichten der Hauptverhandlung, die dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Strafobergrenze zusagen und eine Strafuntergrenze ankündigen, tragen das Risiko in sich dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber nicht schlechthin verwehrt, zur Verfahrensvereinfachung Verständigungen zuzulassen. Er muss jedoch zugleich durch hinreichende Vorkehrungen sicherstellen, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen gewahrt bleiben. Die Wirksamkeit der vorgesehenen Schutzmechanismen hat der Gesetzgeber fortwährend zu überprüfen. Ergibt sich, dass sie unvollständig oder ungeeignet sind, hat er insoweit nachzubessern und erforderlichenfalls seine Entscheidung für die Zulässigkeit strafprozessualer Absprachen zu revidieren
- Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichender Weise. Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung
- Mit den Vorschriften des Verständigungsgesetzes hat die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren eine abschließende Regelung erfahren. Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sogenannte informelle Absprachen sind unzulässig
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 2628/10 - |
Verkündet am 19. März 2013 Kunert Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle |
über
die Verfassungsbeschwerden
I.
des Herrn S…
- Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann,
Kaagangerstraße 22, 82279 Eching am Ammersee, - Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff,
Europa-Universität Viadrina, Große Scharrnstraße 59, 15230 Frankfurt (Oder) -
1. | unmittelbar gegen |
a) | den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 8. Oktober 2010 - 1 StR 443/10 -, |
b) | das Urteil des Landgerichts München II vom 9. März 2010 - W5 KLs 70 Js 40038/07 -, |
2. | mittelbar gegen § 257c StPO |
- 2 BvR 2628/10 -,
II.
1) des Herrn S…
2) des Herrn G…
Europa-Universität Viadrina, Große Scharrnstraße 59,
15230 Frankfurt (Oder) -
1. | unmittelbar gegen |
a) | den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. November 2010 - 1 StR 469/10 -, |
b) | das Urteil des Landgerichts München II vom 27. April 2010 - W5 KLs 63 Js 20750/08 -, |
2. | mittelbar gegen § 257c StPO |
- 2 BvR 2883/10 -,
III.
des Herrn R…
Kurfürstenstraße 40, 12249 Berlin -
gegen a) | den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. August 2011 - 5 StR 287/11 -, |
b) | das Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. März 2011 - (503) 2 St Js 1194/10 KLs (37/10) - |
- 2 BvR 2155/11 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. November 2012 durch
für Recht erkannt:
I. Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. 1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 8. Oktober 2010 - StR 443/10 - und das Urteil des Landgerichts München II vom 9. März 2010 - W5 KLs 70 Js 40038/07 - verletzen den Beschwerdeführer zu I. in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 8. Oktober 2010 - 1 StR 443/10 - wird aufgehoben, soweit er den Beschwerdeführer zu I. betrifft. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu I. zurückgewiesen.
3. Die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern haben dem Beschwerdeführer zu I. seine notwendigen Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.
III. 1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. November 2010 - 1 StR 469/10 - und das Urteil des Landgerichts München II vom 27. April 2010 - W5 KLs 63 Js 20750/08 - verletzen die Beschwerdeführer zu II. in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. November 2010 - 1 StR 469/10 - wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu II. zurückgewiesen.
3. Die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern haben den Beschwerdeführern zu II. ihre notwendigen Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.
IV. 1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. August 2011 - 5 StR 287/11 - und das Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. März 2011 - (503) 2 St Js 1194/10 KLs (37/10) - verletzen den Beschwerdeführer zu III. in seinen Grundrechten aus Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben, soweit sie den Beschwerdeführer zu III. betreffen. In diesem Umfang wird die Sache an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
2. Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin haben dem Beschwerdeführer zu III. seine notwendigen Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.
Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ihre strafgerichtliche Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten. Mittelbar richten sich die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu I. und II. zudem gegen die Vorschrift des § 257c StPO, die durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2353) - im Folgenden: Verständigungsgesetz - in die Strafprozessordnung eingefügt wurde und seither die rechtliche Grundlage für die Verständigung bildet.
I.
1. Die Praxis urteilsbezogener Verständigungen hat sich - feststellbar jedenfalls seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts - als Instrument zur Bewältigung von Strafverfahren herausgebildet, ohne dass es dafür eine ausdrückliche Rechtsgrundlage gegeben hätte. Es handelt sich hierbei um Absprachen zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft sowie der Verteidigung und dem Angeklagten, nach denen das Gericht dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine bestimmte Strafe oder jedenfalls eine Strafobergrenze zusagt. Solche Verständigungen wurden häufig außerhalb der Hauptverhandlung getroffen. Bei Abgabe des Geständnisses wurde sodann in der Regel auf eine weitere Beweisaufnahme verzichtet, so dass die Verständigung zu einer wesentlichen Verfahrensabkürzung führte. In den meisten Fällen wurde gegen ein Urteil, das auf einer solchen Verständigung beruhte, kein Rechtsmittel eingelegt, oftmals wurde sogar ausdrücklich auf Rechtsmittel verzichtet (vgl. zur Entwicklung der Verständigungspraxis Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, Einl. Rn. 119 ff.).
2. Eine wesentliche Ursache für die hohe praktische Bedeutung von Verständigungen wird in der stetig wachsenden Arbeitsbelastung der Strafjustiz gesehen, die bereits an die Grenze der Überlastung heranreiche (vgl. eingehend Krey/Windgätter, in: Festschrift für Hans Achenbach, 2011, S. 233 ff.). Neben der zunehmenden Komplexität der Fallgestaltungen infolge des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts sowie der Globalisierung, die auch in neuen Formen grenzüberschreitender Kriminalität in Erscheinung tritt, trägt der Bundesgesetzgeber durch eine immer stärkere strafrechtliche Durchdringung vieler Lebensbereiche zu dieser Entwicklung bei. Die Regelungsdichte des materiellen Strafrechts ist in den vergangenen Jahrzehnten beständig gestiegen; dies gilt besonders für das Wirtschafts- und das Nebenstrafrecht (vgl. etwa Braun, AnwBl 2000, S. 222 ; Theile, MSchrKrim 2010, S. 147 ; Krey/Windgätter, a.a.O., S. 249). Gleichzeitig bringt die zunehmende Differenzierung und Komplizierung des Strafprozessrechts immer höhere Anforderungen mit sich. So ist etwa die Rechtsprechung zu den Beweisverwertungsverboten für die tatrichterliche Praxis mittlerweile kaum noch überschaubar (vgl. Gössel, in: Festschrift für Reinhard Böttcher, 2007, S. 79 ; Krey/Windgätter, a.a.O., S. 242 ff.). Zudem bieten extensiv einsetzbare Verfahrensrechte der Verteidigung zahlreiche Möglichkeiten, den Fortgang des Verfahrens zu erschweren; vor allem Ablehnungsgesuche und Beweisanträge sowie das Fragerecht können zu diesem Zweck missbraucht werden (vgl. Gössel, a.a.O., S. 81; Krey/Windgätter, a.a.O., S. 238 ff.). Unterdessen sehen sich die Tatgerichte durch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen einem immer stärkeren Druck ausgesetzt, die Verfahrensdauer trotz aller prozessualen Schwierigkeiten zu verkürzen. Dass die Bewertung richterlicher Arbeit und die Festsetzung der Arbeitspensen nicht...
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...ElektroG Nr. 2 Rn. 22 und vom 23. Februar 2011 - 8 C 50.09 - Buchholz 451.25 LadSchlG Nr. 30 Rn. 38; BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a. - BVerfGE 133, 168 Rn. 117 f.). Unabhängig davon, dass dem Berufungsurteil keine Feststellung zu entnehmen ist, dass die Vollzugsbehörde......
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Urteil Nr. II ZB 7/11 des II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, 16-05-2013
...sein Rege-lungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10, 2883/10, 2555/11, NJW 2013, 1058 Rn. 66 mwN). b) Die in § 59a Abs. 1 Satz 1 BRAO enthaltene Aufzählung bestimmter, der Beteiligung an einer......
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Urteil Nr. B 2 U 30/17 R des Bundessozialgericht, 2019-05-07
...aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (stRspr, BVerfG Urteile vom 19.3.2013 - 2 BvR 2628/10 ua - BVerfGE 133, 168, 205 und vom 20.3.2002 - 2 BvR 794/95 - BVerfGE 105, 135, 157 sowie Beschlüsse vom 26.8.2014 - 2 BvR 2400/13 - NJW 2014,......
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Urteil vom 16.12.2016 - BVerwG 8 C 6.15
...ElektroG Nr. 2 Rn. 22 und vom 23. Februar 2011 - 8 C 50.09 - Buchholz 451.25 LadSchlG Nr. 30 Rn. 38; BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a. - BVerfGE 133, 168 Rn. 117 f.). Unabhängig davon, dass dem Berufungsurteil keine Feststellung zu entnehmen ist, dass die Vollzugsbehörde......
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Urteil vom 16.12.2016 - BVerwG 8 C 8.16
...ElektroG Nr. 2 Rn. 22 und vom 23. Februar 2011 - 8 C 50.09 - Buchholz 451.25 LadSchlG Nr. 30 Rn. 38; BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a. - BVerfGE 133, 168 Rn. 117 f.). Unabhängig davon, dass dem Berufungsurteil keine Feststellung zu entnehmen ist, dass die Vollzugsbehörde......
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...sein Rege-lungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10, 2883/10, 2555/11, NJW 2013, 1058 Rn. 66 mwN). b) Die in § 59a Abs. 1 Satz 1 BRAO enthaltene Aufzählung bestimmter, der Beteiligung an einer......
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Urteil Nr. B 2 U 30/17 R des Bundessozialgericht, 2019-05-07
...aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (stRspr, BVerfG Urteile vom 19.3.2013 - 2 BvR 2628/10 ua - BVerfGE 133, 168, 205 und vom 20.3.2002 - 2 BvR 794/95 - BVerfGE 105, 135, 157 sowie Beschlüsse vom 26.8.2014 - 2 BvR 2400/13 - NJW 2014,......