Urteil vom 02. März 2021 - 2 BvE 4/16
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:es20210302.2bve000416 |
Citation | BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 02. März 2021 - 2 BvE 4/16 -, Rn. 1-86, |
Date | 02 Marzo 2021 |
Judgement Number | 2 BvE 4/16 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Verkündet
am 2. März 2021
Böttle
Regierungshauptsekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 4/16 -
über
den Antrag festzustellen,
dass der Antragsgegner durch seine Stellungnahme vom 22. September 2016 (BTDrucks 18/9663) und die damit verbundene Unterlassung einer konstitutiven und verfassungsrechtlich zulässigen Zustimmung zur vorläufigen Anwendung des CETA das Grundgesetz und dadurch Rechte – insbesondere aus Artikel 23 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2, Artikel 79 Absatz 2 des Grundgesetzes – des Deutschen Bundestages verletzt. |
Antragstellerin: |
Fraktion DIE LINKE |
- Bevollmächtigter:
- … -
Antragsgegner: |
Deutscher Bundestag, |
- Bevollmächtigter:
Prof. Dr. Ulrich Hufeld,
Stratenbarg 40a, 22393 Hamburg -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 2020 durch
für Recht erkannt:
- Der Antrag wird verworfen
A.
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des Organstreitverfahrens gegen die Stellungnahme des Antragsgegners vom 22. September 2016 (vgl. BT-Plenarprotokoll 18/190 vom 22. September 2016, S. 18777 ff.; BTDrucks 18/9663) und die Unterlassung einer gesetzesförmigen Zustimmung zur vorläufigen Anwendung des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA).
I.
1. Der Bundestag befasste sich über einen längeren Zeitraum mit den Verhandlungen zu CETA. Das Abkommen war Gegenstand von Plenarsitzungen, Sitzungen des Ausschusses für Wirtschaft und Energie und zehn weiterer mitberatender Ausschüsse, mehrerer Sachverständigenanhörungen (19. Februar 2014, 15. Dezember 2014, 6. Juli 2016, 5. September 2016) und Fachgesprächen mit dem kanadischen Chefunterhändler Verheul (8. Oktober 2014), der EU-Kommissarin Malmström (14. Januar 2016) und der kanadischen Handelsministerin Freeland (14. April 2016).
Am 10. Mai 2016 beantragten die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag und zehn ihrer Abgeordneten, der Antragsgegner wolle eine Stellungnahme zu CETA beschließen und die Bundesregierung auffordern, im Rat der Europäischen Union den Beschluss über die vorläufige Anwendung von CETA abzulehnen (vgl. BTDrucks 18/8391).
Am 5. Juli 2016 beantragten die Fraktion DIE LINKE und acht ihrer Abgeordneten, der Antragsgegner wolle beschließen, festzustellen, dass CETA mitgliedstaatliche Kompetenzen berühre und in die Angelegenheiten der Länder eingreife. Der Antragsgegner solle daher die Bundesregierung auffordern, dafür Sorge zu tragen, dass CETA als gemischtes Abkommen neben dem Antragsgegner auch dem Bundesrat zur Abstimmung vorgelegt werde (vgl. BTDrucks 18/9030).
Der Ausschuss für Energie und Wirtschaft des Deutschen Bundestages hörte in seiner 87. Sitzung am 5. September 2016 Sachverständige zu verfassungs- und europarechtlichen Fragen und zu inhaltlichen Aspekten von CETA an und beschloss in seiner 88. Sitzung am 21. September 2016, die Ablehnung der oben genannten Anträge zu empfehlen (vgl. BTDrucks 18/9697 und 18/9703).
Die Fraktion DIE LINKE und elf ihrer Abgeordneten beantragten am 20. September 2016 unter dem Titel „Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA stoppen“ (vgl. BTDrucks 18/9665), der Antragsgegner wolle beschließen, nach Art. 23 Abs. 3 GG Stellung zu nehmen und festzustellen, dass die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung von CETA in seiner bestehenden Form gegen das Unionsrecht und auch das Grundgesetz verstoße. Weiter solle der Antragsgegner die Bundesregierung auffordern, den deutschen Vertreter im Ministerrat anzuweisen, den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung von CETA und den Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung von CETA abzulehnen, und für den Fall, dass die Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit getroffen würden und der deutsche Vertreter im Rat überstimmt würde, juristisch gegen diese Beschlüsse vorzugehen. Zur Begründung verwies der Antrag unter anderem darauf, dass die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Ratsbeschlüsse ultra vires ergehen und die Verfassungsidentität verletzen würden (vgl. BTDrucks 18/9665, S. 1). Insbesondere sei eine vorläufige Anwendung von CETA nur zulässig, soweit die ausschließlichen Zuständigkeiten der Europäischen Union reichten. Es genüge daher nicht, das Kapitel zum Investitionsschutz von der vorläufigen Anwendung auszunehmen. Auch für Verkehrsdienstleistungen, die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen, den Arbeitnehmerschutz und die in CETA vorgesehenen Vertragsorgane mit ihren weitreichenden Zuständigkeiten sowie für die Regulierungskooperation besitze die Europäische Union keine ausschließliche Zuständigkeit. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages habe dies zumindest für die Bestimmungen über Verkehrsdienstleistungen bestätigt. Auch sei nicht nachvollziehbar, warum das im Frühjahr 2017 erwartete Ergebnis des Gutachtens des Gerichtshofs der Europäischen Union zum EU-Singapur-Abkommen (EUSFTA) – dieses liegt inzwischen vor (vgl. EuGH, Gutachten 2/15 vom 16. Mai 2017, Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Singapur, EU:C:2017:376) – nicht abgewartet werde, das eine erste Klärung zur Reichweite der handelspolitischen Zuständigkeiten der Europäischen Union bringen könne (vgl. BTDrucks 18/9665, S. 4). Die Anträge der Fraktion DIE LINKE beziehungsweise ihrer Abgeordneten wurden abgelehnt (vgl. BT-Plenarprotokoll 18/190 vom 22. September 2016, S. 18794, 18800 ff.).
Der Antragsgegner nahm stattdessen den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD an, die streitgegenständliche Stellungnahme abzugeben (vgl. BT-Plenarprotokoll 18/190 vom 22. September 2016, S. 18803 ff.). Mit dieser stellte er „in Wahrnehmung seiner Integrationsverantwortung“ unter anderem fest (BTDrucks 18/9663, S. 3):
(…)
Auf Grundlage des Lissaboner Vertrags entscheiden die Mitgliedstaaten im EU-Rat auch über die vorläufige Anwendung von CETA. Die in der EU-Zuständigkeit liegenden Teile von CETA dürfen jedoch erst nach Zustimmung des Europäischen Parlaments vorläufig angewendet werden. Dies ist wichtig, um dem Abkommen eine demokratische Legitimation auf EU-Ebene zu verschaffen. Keinesfalls darf die vorläufige Anwendung in den Bereichen erfolgen, die nationalstaatliche Kompetenzen umfassen.
Der Deutsche Bundestag begrüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der Europäischen Kommission und der Bundesregierung im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindliche Klärungen der noch offenen Fragen herbeizuführen und setzt sich gleichfalls hierfür ein.
Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über seine Zustimmung zu CETA entscheiden.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,
1. den Bundestag zu Angelegenheiten im Zusammenhang mit CETA weiterhin umfassend und frühzeitig zu informieren. Der Bundestag wird die kommenden Beratungen zu CETA auf europäischer Ebene und eine ggf. vorläufige Anwendung von den in der EU-Zuständigkeit liegenden Teilen des Abkommens aktiv und intensiv begleiten. Dazu wird die Bundesregierung den Bundestag über alle Beratungsgegenstände, Vorschläge und Initiativen, die im Zusammenhang mit CETA behandelt werden, unterrichten. Bei Bedarf wird der Deutsche Bundestag von seinem Recht Gebrauch machen, zu Positionen der Europäischen Union Stellung zu nehmen. Durch ein größtmögliches Maß an Transparenz wird der Deutsche Bundestag seinen Beitrag zu einer informierten öffentlichen Debatte leisten;
2. in der EU darauf hinzuwirken, dass zwischen der EU und Kanada gemeinsam getroffene Vereinbarungen zu CETA im Zuge des weiteren Prozesses in rechtsverbindlichen Erklärungen festgehalten werden;
3. im Rat durch eine Unterzeichnung von CETA als gemischtem Abkommen unter den oben genannten Maßgaben den Weg zu einem Ratifizierungsverfahren zu eröffnen und
4. durchzusetzen, dass in Abstimmung zwischen EU-Ministerrat, Europäischer Kommission und Europäischem Parlament Ausnahmen von der vorläufigen Anwendung vereinbart werden, wo dies aufgrund von Zuständigkeiten der EU-Mitgliedstaaten rechtlich geboten ist sowie in jedem Fall im Bereich des Investitionsschutzes (Kapitel 8). Die ausgenommenen Bereiche können zur Sicherung deutscher und europäischer Interessen über die in früheren Abkommen ausgenommenen Teile hinausgehen.
2. Der Senat hat mit Urteil vom 13. Oktober 2016 in den Verfahren 2 BvR 1368/16, 2 BvR 1444/16, 2 BvR 1482/16, 2 BvR 1823/16 und 2 BvE 3/16 den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat zur vorläufigen Anwendung von CETA nach...
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